Nachdem die Forderungsempfehlung der Gewerkschaft IGBCE für die Tarifrunde Chemie angenommen wurde, die bundesweit die 585.000 Kolleginnen und Kollegen der chemischen und pharmazeutischen Chemie betrifft, ist die Tarifrunde mit regionalen Verhandlungen, zunächst in Rheinland-Pfalz, gestartet. Die Forderungen umfassen eine Entgelterhöhung von 6-7% und eine Modernisierung des Bundesentgelttarifvertrags, vor allem was die Aufstiegschancen zwischen den Tarifgruppen betrifft.
In einer Zeit der tiefen kapitalistischen Krise, die wir alle in den letzten Jahren in der eigenen Tasche zu spüren bekommen haben, sind das bereits sehr niedrige Forderungen, von denen die Gewerkschaftsführung betont, Forderungen mit „Maß und Mitte“ zu sein, die Rücksicht auf die „schlechte wirtschaftliche Lage“ der Arbeitgeber nehmen.
Dabei brauchen wir kein Maß und Mitte, wir brauchen deutliche Verbesserungen! Die historische Inflation der letzten Jahre hat in allen Bereichen zu deutlichen Reallohnverlusten geführt, und auch wenn diese inzwischen auf einem niedrigeren Niveau liegt, gilt das nicht für die horrenden Preissteigerungen der wichtigsten Grundgüter: Im Jahr 2023 insgesamt 5,9 %, bei Nahrungsmitteln 12,4 %, bei Strom und Gas 14 % – und das zusätzlich zu den Steigerungen des Vorjahres! Kein Wunder also, dass laut einer IGBCE-Umfrage drei von vier Kollegen der Branche Einsparungen und Kürzungen in ihren Haushaltsausgaben vornehmen mussten.
„Krisentarifvertrag“ bedeutet Nullrunde!
Doch sogar diese, in vorauseilendem Gehorsam niedrig angesetzten Forderungen, sind anscheinend noch zu viel für die Arbeitgeber. Die ersten regionalen Verhandlungen in Rheinland-Pfalz sind nach nur wenigen Stunden geplatzt und sollen im Mai auf Bundesebene fortgesetzt werden. Sie greifen die „unrealistisch hohen“ Forderungen an und fordern einen „krisengerechten Tarifabschluss“[1] – „krisengerecht“ für die Profite der Konzerne und Bosse, Nullrunde für die Beschäftigten!
Sie lamentieren über die schlechte Lage der Industrie und nutzen das Argument der Krise, um de facto Lohnkürzungen zu erreichen. Eine Frechheit! Denn wie sieht die Lage wirklich aus?
Krise und Krisengewinnler
Zwar trifft die kapitalistische Krise und die allgemein schwierige Lage des deutschen Kapitals und Imperialismus natürlich auch die chemische Produktion, die neben Autoherstellung und Maschinenbau der wichtigste Sektor der deutschen Wirtschaft ist. 2023 ist die Produktion um 8 % eingebrochen, der Umsatz der Branche um 12 % zurückgegangen.
Doch währenddessen sind es ganze Bereiche, die von der Krise kaum oder gar nicht betroffen sind und sogar davon profitieren, wie die Kosmetik-, Pharma- und Konsumgüterindustrie.
Und was die Großen der Branche betrifft, so plant BASF beispielsweise trotz Deinvestitionen und „roter Zahlen“ Ende April eine lukrative Dividende von 3,40 an Aktionäre und Investoren auszuschütten, und investiert unbeirrt 10 Milliarden in eine Großprojekt im chinesischen Zhanjiang.
Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Auch die Dividende von Aurubis, einem der größten Kupferproduzenten weltweit, erreichte im „Krisenjahr“ 2022 einen Höchststand von 1,80 Euro pro Aktie. 2023 zwar „nur“ noch 1,40, aber immer noch eine Erhöhung von 40% im Vergleich zu 2014! Und in den Geschäftsberichten gibt Aurubis selber zu, 2021/22 einen HISTORISCHEN Höchststand bei den Unternehmensgewinnen eingefahren zu haben und bemerkt auch mit Ausblick auf 2023, dass „gestiegene Preise und hohe Nachfrage die gestiegenen Energiekosten ‚überkompensieren‘.“ Für das erste Quartal dieses Jahres fahren sie ein „starkes“ Ergebnis ein, „getrieben durch höhere Schmelz- und Raffinierlöhne, die Kathodenprämie sowie gute Nachfrage nach Gießwalzdraht.“[2]
Und wir sollen die Gürtel enger schnallen? Es ist nicht das erste Mal, das die Arbeitgeberseite versucht, mit dem Argument der Krise und dem Schüren von Angst um Arbeitsplätze unter den Kollegen, die Gewerkschaften hinter ihren Karren zu spannen. Erst im August letzten Jahres haben die Arbeitgeberverbände der Industrie eine „Allianz pro Brückenstrompreis“ mit IGBCE und IG Metall gegründet und Lobbyarbeit für einen „wettbewerbsfähigen“ Industriestrompreis in Form von indirekten staatlichen Subventionen an eben solche Unternehmen betrieben, während gleichzeitig die Profite von privaten Stromerzeugern sprudelten und die Beschäftigten mit Einmalzahlungen abgespeist wurden und ihren Reallöhnen beim schrumpfen zusehen konnten.
Forderungen voll durchsetzen: IGBCE in die Offensive!
Dabei reicht es nicht, nur die mageren Forderungen gegenüber den kommenden Angriffen der Arbeitgeberseite zu verteidigen. Die volle Durchsetzung der Forderungen, die nun aufgestellt wurden, und ein Abschluss der nicht mehr als ein Jahr betragen darf sind das mindeste, was mit der Kampfkraft in der Chemieindustrie gewonnen werden kann und muss.
Aber das kann nur ein erster Schritt sein, um im Ausbau der Kampfkraft und den Forderungen weiterzugehen. Eine solche Kampagne sollte aber nicht bei der Frage nach Lohnerhöhung stehen bleiben. Die jüngsten Beispiele der Tarifrunden der ver.di und der GDL haben bewiesen, dass es höchste Zeit ist, die Frage nach Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich mit aufzunehmen. Ein derartiger kämpferischer Forderungskatalog würde echte und spürbare Verbesserungen für die Beschäftigten bedeuten und die Kollegen mobilisieren, anstatt Pessimismus und schlechter werdende Organisationsgrade zu verbreiten, wie es die Tarifkommissare – wenig überraschend – bemängeln.
Dazu würde aber natürlich auch gehören, die Frage nach Arbeitskampfmaßnahmen ganz offen aufzuwerfen. Mit mächtigen Vollstreiks könnten wir den Arbeitgebern die Idee eines „Krisentarifvertrages“ schnell austreiben. Die IGBCE hat im Dezember berechtigterweise ein Schlichtungsabkommen von 1982 gekündigt, das Urabstimmungen über Streiks erst nach einer Schlichtung erlaubt. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung und zeigt, wie viel Druck von den Kollegen an der Basis ausgeht, nachhaltige Verbesserungen zu erkämpfen.
Dass drei bundesweite Verhandlungsrunden angesetzt sind, bevor diese Kündigung greift, und auch die bisherige Friedenspflicht zu Ende Juni ausläuft, ist jedoch eine echte Gefahr. Wir dürfen uns nicht mit noch weniger abspeisen lassen, als ohnehin schon gefordert ist! Es ist nicht davon auszugehen, dass die Arbeitgeber in den ersten drei Verhandlungen substantielle Verbesserungen anbieten werden – die Gewerkschaftsführer sollten sie platzen lassen, und starke Arbeitskampfmaßnahmen wie Warnstreiks und Erzwingungsstreiks ab Juli vorbereiten. Das ist der einzige Weg, um echte Verbesserungen durchzusetzen und die Kampfkraft zu steigern. Der Wille in den Betrieben ist zweifellos da.
[1] Siehe bspw. https://www.chemie.de/news/1182614/igbce-forderungsempfehlung-weder-krisengerecht-noch-finanzierbar.html, https://www.chemanager-online.com/news/chemie-tarifrunde-2024-arbeitgeber-streben-krisengerechten-tarifabschluss.
[2] https://www.aurubis.com/medien/pressemitteilungen/pressemitteilungen-2024/aurubis-erzielt-starkes-ergebnis-im-ersten-quartal-2023-24#:~:text=Die%20Aurubis%20AG%2C%20ein%20weltweit,%E2%82%AC