„Der große Erfolg von PiS in diesen Regionen liegt vor allem am absoluten Versagen der neoliberalen Parteien...“

Das folgende Interview wurde mit Florian Gruhl am 24.11.2020 geführt. Florian lebt seit einigen Jahren in Wrocław und hat die Protestbewegung gegen das faktische Abtreibungsverbot in Polen miterlebt.

Nach der Verschärfung des restriktiven Abtreibungsgesetzes gab es die größten Proteste seit Jahren. Wie sieht die Lage in Wrocław aus?

Leider war es nur eine Frage der Zeit, dass die derzeitige PiS-Regierung einen erneuten Versuch starten würde, das Recht auf Abtreibungen in Polen abzuschaffen, nachdem sie es in den Jahren 2016 und 2018 bereits erfolglos versucht hatte. Als die Entscheidung dann am Donnerstag, dem 22. Oktober fiel, kam es für die meisten Menschen wie ein Schlag ins Gesicht. Die Antwort folgte jedoch bereits am Tag darauf, mehr als 15.000 Menschen nahmen an einer Demonstration gegen das Urteil des Verfassungsgerichts teil. Die großen Proteste kamen aber erst in der Woche danach: In ganz Polen gingen insgesamt bis zu eine Million Menschen auf die Straße.

Frühere Proteste haben sich häufig auf Warschau und die westpolnischen Großstädte konzentriert, hast du bei der aktuellen Bewegung dazu einen Unterschied gemerkt?

Also die Konzentration liegt natürlich nach wie vor auf Städten wie Wrocław, Poznań, Gdańsk, Krakau und Warschau. Das Bemerkenswerte ist aber, dass auch in ostpolnischen Städten wie Białystok und Lublin über 10.000 Menschen auf die Straße gingen. Für viele Einwohner*innen dieses Landes war diese Entwicklung im sogenannten „Polska B“, wie die Landesteile, die östlich der Weichsel liegen, oft abfällig tituliert werden, völlig überraschend. Dass macht deutlich, dass die Vorurteile der „dummen, reaktionären Landbevölkerung“, die von Anhängerinnen und Anhängern neoliberaler Parteien verbreitet werden, völliger Unsinn sind. Der große Erfolg von PiS in diesen Regionen liegt vor allem am absoluten Versagen der neoliberalen Parteien, den Menschen eine wirkliche Alternative zu bieten. Was hat eine alleinerziehende Mutter in einer „strukturschwachen Region“ wie Podlasie davon, dass Polen Mitglied der Europäischen Union ist? Ist ihr Gehalt dadurch gestiegen? Haben sich die Bildungschancen ihrer Kinder dadurch erhöht? Oder muss sie immer noch in zwei oder drei Jobs arbeiten, um ihren Nachwuchs versorgen zu können?

Glaubst du, dass die Bewegung die Kraft hat, langfristig das Bewusstsein und die politischen Kräfteverhältnisse im Land zu ändern?

Viele der Protestierenden sehen, mal salopp formuliert: Die Regierung ist scheiße. Warum das so ist, wie die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhänge sind, das ist vielen nicht so klar. Wichtig wäre an der Stelle aber, den Menschen eine echte politische Alternative zu bieten, sonst werden sie alle der bürgerlichen Opposition in die Arme laufen oder weiter in Scharen das Land Richtung Westen verlassen. Für die Bewusstseinsentwicklung der Massen ist also eine Kraft, die die Missstände klar benennt - nicht nur das Abtreibungsverbot, sondern eben auch Probleme wie Lohndumping, Altersarmut, Mängel im Bildungssystem - unabdingbar. Eine solche politische Kraft ist aber einfach nicht vorhanden oder die Gruppen, die eine solche Rolle übernehmen könnten, sind völlig isoliert und marginalisiert.

Ich denke aber dennoch, dass es langfristig gesehen durchaus möglich wäre, ein antikapitalistisches Bewusstsein bei den Menschen zu wecken. Die Leute sind schließlich nicht dumm, sie sehen wie schlecht es ihnen geht und dass es bisher keine Regierung geschafft hat, daran etwas zu ändern. Und sie sehen auch wie die bürgerlichen Parteien sich permanent auf ihre Kosten bereichern und dabei die Probleme des Volkes völlig außen vorlassen. Daher hoffe ich, dass ein Umdenken, ein Linksruck, stattfinden wird. Bis dahin liegt aber noch ein weiter Weg vor uns.

Das Interview wurde geführt von Rasmus Schad.

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