Morgen, am 27. Oktober, wird über den Vorschlag der Regierung für den Staatshaushalt 2022 (OE2022) abgestimmt. Zum aktuellen Zeitpunkt ist noch nicht bekannt, ob die Vorlage genehmigt werden wird. Der BE (Bloco de Esquerda) und die PCP (Kommunistische Partei Portugals) haben bereits angekündigt, dass sie dagegen stimmen werden.

Die Medien sind in heller Aufregung. Eine „politische Krise“ wird ausgerufen, Costa hat eine Reihe von Zugeständnissen gemacht um zu versuchen, die geringonca [1] wiederherzustellen. Die Rechte, die dagegen stimmt, erklärt, dass die Linke Selbstmord begehen wird, wenn sie ebenfalls dagegen stimmt. Marcelo (Rebelo de Sousa, Präsident Portugals, Anm. d. Ü.) fordert von den linken Parteien „gesunden Menschenverstand“ und hat bereits angekündigt, dass Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszurufen, wenn dieser Haushalt nicht angenommen wird. Auf diese Weise übt das Finanzkapital mit allen Mitteln Druck auf die Linke aus, um die Verabschiedung eines neuen Haushaltes zu erzwingen, der ihre Profite verteidigen soll. 

Der Zerfall der „geringonca“

Zu Beginn der „Regierungslösung“ der Linken im Jahr 2015 konnten die Führungen von BE und PCP ihren Optimismus und ihre Ambitionen, ihre parlamentarische Schlagkraft zu erhöhen und sogar eine Koalitionsregierung mit der PS in einer kommenden Legislaturperiode anzustreben, kaum verbergen. Heute, nach sechs Jahren bedingungsloser Unterstützung des sozialdemokratischen Programms in allen grundlegenden Fragen, könnten die Ergebnisse dieser Politik nicht offensichtlicher sein: Beide Parteien befinden sich in einer tiefen Krise. Es hätte auch gar nicht anders sein können.

Es waren Jahre des schändlichsten parlamentarischen Kretinismus, der leeren Reden, der Manöver und des Verrats, alles im Namen der Verhinderung einer rechten Regierung (die nie eine wirkliche Bedrohung darstellte) und des „Realismus“, der „schrittweisen Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeitnehmer“. Die Führungen des BE und der KP verteidigten die linke Flanke der Regierung bei jedem Schritt. Zusammen mit der Gewerkschaftsbürokratie der CGTP sahen sie nicht nur tatenlos zu, sondern gingen sogar so weit, ihre Unterstützung für Bürgerbegehren anzudeuten, die über das Verbot größerer Streiks entscheiden sollen. Sie sabotierten Kämpfe der verschiedenen Sektoren und zersplitterten sie systematisch, anstatt sie in einer großen einheitlichen Bewegung zu bündeln, um einer fragilen Regierung, während die Rechte vollkommen ruiniert und am Boden war, Zugeständnisse abzuringen. Was hat der Reformismus durch eine solche Taktik und Verhandlungsstrategie gewonnen?

Das Elend bleibt bestehen, da die wichtigsten Gegenreformen der PSD-CDS-Regierung und der Troika betreffend der Arbeitsgesetzgebung unangetastet geblieben sind, und die kleinen jährlichen Erhöhungen des Mindestlohns, die mit großem Tamtam durchgeführt wurden, gehen nicht einmal so weit, der Arbeiterklasse die bescheidenen Lebensbedingungen zurückzugeben, die sie 2008 hatte, als die Große Rezession anbrach. Die Lage der Jugend ist heute dramatisch, und die jüngsten Zahlen zeigen, dass 2 Millionen Menschen in einem Land mit 10,3 Millionen Einwohnern von Armut bedroht sind. Der Verfall der nationalen Gesundheit, des öffentlichen Bildungswesens und des Verkehrs hat sich zunehmend fortgesetzt. Die Liberalisierung des Wohnungsmarktes hat zu steigenden Mieten, Zwangsräumungen und der Vertreibung von Arbeiterfamilien aus den Großstädten geführt und die größte Wohnungskrise seit der Diktatur ausgelöst. Schließlich wurde die Pandemie auf skandalöse Weise zugunsten des privatisierten Gesundheitswesens, des Bankensektors und des Großkapitals gehandhabt, indem milliardenschwere Hilfspakete geschnürt wurden, die fast völlig in den Taschen der Kapitalisten landeten.

Die kleinen Maßnahmen zur Erleichterung der Lebenshaltungskosten in diesen Jahren, die stets groß angekündigt wurden und die die Profite des Kapitals nicht anrührten (wie z.B. verbilligte Fahrkarten und kostenlose Schulbücher durch Subventionen des Staates) werden angesichts immer schlechter werdender Lebensbedingungen immer weniger. Schlimmer noch: heute ist zum ersten Mal seit den Parlamentswahlen 2015 eine rechte Regierung eine echte Bedrohung. Die Ergebnissen waren also genau das Gegenteil von dem, was versprochen wurde.

Dieses durchschlagende Scheitern der Politik der Klassenversöhnung und der nationalen Einheit erklärt die Erosion der Wählerbasis des BE und der PCP seit 2015 und auch die ersten Anzeichen dafür, dass sich dieses Wegbrechen auf die Basis der Sozialistischen Partei ausweitet.

Die Kommunalwahlen haben die Grenzen der Politik der Klassenversöhnung der „geringonca“ klar aufgezeigt, und zwar nicht nur in Bezug auf die Verbesserungen für die Arbeiterklasse, sondern sogar auch im Bezug auf die parlamentarische Ebene der Wahlen, die nach wie vor im Mittelpunkt des Schaffens der Bürokratien aller linken Parteien steht.

Die reformistischen Führungen spüren enormen Druck von unten, sowohl von den kämpferischen Teilen der Basis, die weiterhin in den Parteistrukturen bleibt, als auch von den großen Massen in Arbeiterklasse und Jugend selbst, die ihre Unzufriedenheit auf jede erdenkliche Weise zum Ausdruck bringen. Aufgrund dieses Drucks versuchen die Bürokraten (von BE und PCP, Anm. d. Ü.), eine künstliche Unterscheidung zwischen ihrem politischen Programm und dem Programm der PS zu schaffen, in der Hoffnung, eine gewisse Wählerbasis wieder zu erlangen.

Doch die Widersprüche häufen sich. Auf der einen Seite haben die linken Führungen das Bedürfnis, sich von der PS abzugrenzen. Andererseits weigern sie sich, die Arbeiterklasse und die Jugend auch außerhalb der bürgerlichen Institutionen zu mobilisieren, da sie vor allem befürchten, ihre Ambitionen innerhalb eben jener Institutionen könnten schaden nehmen. Und auch an der Wahlurne wollen weder die Führungen von BE noch von PCP auf die Probe gestellt werden, denn alles deutet darauf hin, dass sie schlechtere oder bestenfalls die gleichen Ergebnisse wie 2019 erzielen würden.

Costa sucht verzweifelt nach einem Zugeständnis, das der BE oder die PCP ihrer schwindenden Wählerschaft als großen Sieg präsentieren können. Am Samstag wurden mehrere Vorschläge unterbreitet, darunter die Anhebung des Mindestlohns auf 705€ im Januar kommenden Jahres und 850€ im Jahr 2025, ein Stufenplan zur Einführung einer kostenlosen Betreuung für Kinder 2024, eine Einkommenssteuerreform, von der mehr als 170.000 Personen explizit ausgenommen befreit wurden, und eine Erhöhung der Renten um 10€. In Wahrheit wäre jede dieser Maßnahmen noch vor wenigen Monaten als entscheidender Sieg gefeiert worden, ebenso wie die vielen anderen ähnlichen Maßnahmen in den letzten sechs Jahren. Jetzt werden sie jedoch alle als „unzureichend“ und unfähig angesehen, die „strukturellen Probleme“ zu lösen.

Der politische Balanceakt wird für Costa immer schwieriger. Das Einzige, was sein Versuch, die Linke für sich zu gewinnen, bisher erreicht hat, ist die Verärgerung der kleinen Landbesitzer und des dekadentesten Teils der nationalen Bourgeoisie, die vor allem durch die Unternehmerverbände repräsentiert wird, die aus Protest gegen diese Maßnahmen den „nationalen Dialog“ beendet haben. Wir sprechen natürlich nicht vom großen Finanzkapital, den Unternehmen des PSI-20 oder dem Kapital der ausländischen imperialistischen Mächte. Es sind die Unternehmer der Schuh- und Textilindustrie, des Baugewerbes, der Gebäudereinigung, der Landwirtschaft, des Hotel- und Gaststättengewerbes, des Fremdenverkehrs usw., für die eine Erhöhung des Mindestlohns um 40 Euro untragbar ist. Mit Protesten und aufrührerischen Reden versucht diese soziale Schicht, Druck auf die Regierung auszuüben, nachdem ein halbes Jahrzehnt lang sozialer Frieden herrschte und die nationalen Arbeitgeber fruchtbare Vereinbarungen mit der Politik getroffen haben. Sogar während der Pandemie, in der sie völlig frei waren, auf ihren Arbeitern herumzutrampeln.

Obwohl die Umfragen auf einen Sieg der PS bei möglichen vorgezogenen Wahlen hindeuten, weiß Costa (vor allem nach der unerwarteten Niederlage Medinas bei der Bürgermeisterwahl in Lissabon), dass seine Wählerbasis demoralisiert ist und dass sich die Umfrageergebnisse sehr schnell ändern oder, wie in Lissabon geschehen, eine bittere Überraschung bereithalten können; eine bittere Überraschung für die Politiker und eine Tragödie für die Arbeiterklasse.

Der Bonapartismus Marcelos und das Wiedererstarken der Rechten

Marcelo ist der klügste Vertreter der Bourgeoisie und ihr wichtigster Trumpf in dieser Phase. Sein Handeln zeigt sehr deutlich, was die Bourgeoisie will: die Verabschiedung des Haushalts für 2022 und eine weitere Zermürbung der Linken in einem weiteren Jahr der Krise.

Mit jeder öffentlichen Äußerung erhöht Marcelo den Druck auf die Linke, dem Haushalt zuzustimmen. Er gibt ihr die Schuld an der politischen Krise, droht mit der sofortigen Auflösung des Parlaments, wenn es nicht zustimmt, und gibt der Rechten vorsichtige Ratschläge und Signale. Der bonapartistische Charakter seiner Präsidentschaft wird in dem Maße unterstrichen, wie der Reformismus nicht in der Lage ist, seine Politik der Klassenversöhnung durchzusetzen. Die Leichtigkeit, mit der Marcello von der „Atombombe“ (so nennt er die Auflösung des Parlamentes) spricht, ist ein Beweis dafür, dass die bonapartistischen Tendenzen mit der Verschärfung der kapitalistischen Krise weiter zunehmen werden.

Die Rechte bereitet sich ihrerseits auf den schlimmsten Fall vor. Die herrschende Klasse würde gerne ein weiteres Jahr PS mit Unterstützung der Linken haben, aber da dies nicht von ihr abhängt, muss sie die Rechte organisieren. Falls es zu vorgezogenen Wahlen kommt, fordern sowohl Paulo Rangel als auch Rui Rio Marcelo auf, diese so spät wie möglich abzuhalten. Das ist das Ziel der Rechten: Zeit zu haben, um eine rechte Regierung vorzubereiten, die in der Lage ist, eine absolute Mehrheit zu erlangen und vier Jahre lang solide zu regieren, indem sie die Arbeiterklasse brutal angreift (genauso, wie es die PSD-CDS-Regierung von Passos Coelho und Paulo Portas getan hat).

Rangel, der bei den für den 4. Dezember angesetzten internen Wahlen der PSD mit einem Sieg über Rio rechnet, ist bereits mitten im Wahlkampf. Er kandidiert nach dem Rücktritt von Passos Coelho und wird von Montenegro und dem reaktionärsten Flügel der PSD unterstützt. Die Taktik von Rangel bestand jedoch darin, sich öffentlich von Chega zu distanzieren, die sich bereits als unvermeidlicher Verbündeter und Koalitionspartner für die PSD im Falle einer Regierungsbildung etabliert hat. Wie erklären sie sich das?

Es ist ganz offensichtlich, dass die Rechte momentan Schwierigkeiten hat, weiter anzuwachsen. Die soziale Polarisierung hat eine ihr Wählerpotenzial klar begrenzt. Ein Sieg der PSD bei den Parlamentswahlen, wenn diese denn kommen sollten, würde unter den gleichen Bedingungen erfolgen müssen wie ihr Sieg bei den Kommunalwahlen in Lissabon: nicht durch Gewinn neuer Wähler, sondern durch die Demobilisierung der Linken, d.h. der Arbeiterklasse und der Jugend. Sollte Rangel eine Koalition mit Chega ankündigen oder seine Nähe zur extremen Rechten offenbaren, würde er die gesamte Jugend und breite Schichten des Proletariats gegen sich aufbringen, die sich in Bewegung setzen und sich der extremen Rechten klar entgegenstellen würden. Das ist der Grund hinter seinen „demokratischen“ Äußerungen innerhalb einer PSD, die „von Mitte-Links nach Mitte-Rechts geht“. Um eine Regierung zu bilden, muss die PSD den richtigen Ton finden, um ihre soziale Basis zu mobilisieren, ohne die soziale Basis der Linken all zu sehr in Bewegung zu setzen. Das ist keine leichte Aufgabe in einem Wahlkampf, der extrem polarisiert werden kann.

Der einzige Ausweg ist, mit der kapitalistischen Politik zu brechen und den Kampf auf die Straße zu bringen!

 Die Annahme, dass parlamentarische Spielerein und Verhandlungen ausreichen, um die Dinge zu verändern (wie es die Führungen von BE und PCP glauben) ist nicht nur ein Fehler, sondern auch eine Kapitulation im Klassenkampf und die Aufgabe jeder ernsthaften Perspektive für soziale Verbesserung. Die grundlegende Aufgabe müsste sein, das Programm der Parteien links von der PS komplett zu verändern; alle Lehren aus den letzten Jahren zu ziehen und ein alternatives Programm zur Lösung der drängenden Probleme der Arbeiterklasse vorzulegen, zusammen mit einem mutigen und kämpferischen Kampfplan. Das wäre der einzige Weg, bedeutende soziale Errungenschaften zu erreichen.

Die Forderungen, die heute von der PS gestellt werden, bedeuten keineswegs eine grundlegend andere Politik. Sie ignorieren sogar die unmittelbarsten Bedürfnisse der Arbeiterklasse, wie bspw. die Verstaatlichung des Energiesektors, um den Anstieg der Strom-, Gas- und Kraftstoffpreise zu bekämpfen, was dazu führen wird, dass mit Einbruch des Winters noch mehr Arbeiterfamilien ohne Heizung dastehen werden. Es ist bezeichnend, dass sich BE und PCP angesichts dessen darauf beschränken, eine Senkung der Steuern auf Strom, Gas und Treibstoff in dem Haushaltsplan für 2022 zu fordern. In ihren Reden sprechen sie von Preiskontrolle oder sogar Verstaatlichung, ohne jedoch wirklich einen konsequenten Kampf für diese Ziele zu organisieren. Es ist offensichtlich, dass eine Steuererleichterung die Preise nicht senkt, sondern nur die Spekulation fördert und die Gewinnspanne der Unternehmen erhöht. Das sind leere Worte!

Auch die Verstaatlichung der Banken, des Gesundheitswesens, der Bildung, der Post, der Wasserversorgung, des Verkehrs usw. sind für diese beiden Parteien nur dekorative Dokumente und nette Floskeln für den Urlaub. Die institutionellen Manöver und Kabinettsverhandlungen hinter verschlossenen Türen – selbst wenn sie in einem sehr radikalen Ton geführt werden – bringen der Arbeiterklasse nichts. Tatsache ist, dass die Reformisten in eine Sackgasse geraten sind. Sie haben keine Antwort auf die Probleme der großen Mehrheit der Bevölkerung und sind in ein erbärmliches Schauspiel verwickelt, dass die Arbeiterklasse als sinnlos und völlig losgelöst von den Problemen des wirklichen Lebens betrachtet.

Aber genug davon. Die Arbeiterklasse hat nichts von leeren Gesten. Es ist notwendig, den parlamentarischen Kretinismus, das Manövrieren in den bürgerlichen Institutionen und vor allem die reaktionäre Utopie eines gerechten Kapitalismus aufzugeben. Nicht nur der Haushaltsplan für 2022, sondern die gesamte Politik der Sozialdemokratie (die Politik, die uns mit Unterstützung von BE und PCP an diesen Punkt gebracht hat) muss bis auf ihre Grundzüge kritisiert werden; ihr Klassencharakter muss offengelegt werden, und zwar nicht mit isolierten und unzusammenhängenden Maßnahmen, sondern mit einer echten politischen Alternative, die organisiert im gemeinsamen Kampf aufgebaut werden muss.

Der einzige Weg für die Arbeiter und die Jugend ist ein wirkliches sozialistisches Programm, das mit dem Kapitalismus bricht und sich kraftvoll gegen alle Widerstände durchsetzt.

 

Anmerkungen:

 [1]          Eine Bezeichnung, die die Rechte der PS-Regierung mit parlamentarischer Unterstützung durch die PCP und den BE gegeben hat. Eine Geringonca ist etwas, das nicht gut funktioniert.

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