Wir veröffentlichen an dieser Stelle einen Artikel, der am 14. Mai 2014 erstmals auf der Website unserer spanischen Organisation erschienen ist. 

In ihrer üblichen Kurzsichtigkeit und Arroganz haben die Imperialisten gedacht, dass sie die so genannte „Orangene Revolution“ von 2004 erfolgreich wiederholen könnten, ohne zu berücksichtigen, dass die aktuellen objektiven Bedingungen völlig andere sind. Die Arbeiterklasse lernt aus Erfahrung, und die letzten 25 Jahre haben den Arbeitern Osteuropas gezeigt, was die Restauration des Kapitalismus bedeutet, nachdem sie seine katastrophalen Folgen am eigenen Leib gespürt haben. Im Jahr 2004 blieben die ukrainischen Arbeiter, die sich noch immer von den Verwüstungen des Zusammenbruchs des Stalinismus erholten, angesichts der Ereignisse passiv und ließen die Imperialisten und Oligarchen ohne jeden Widerstand agieren. Im Jahr 2014 hielt sich die Arbeiterklasse trotz der weit verbreiteten Unzufriedenheit mit der Regierung Janukowitsch und den mit den russischen Kapitalisten verbündeten Sektoren der ukrainischen Oligarchie aus den Maidan-Ereignissen heraus und beteiligte sich nicht an einer Bewegung, die von der pro-westlichen Opposition gefördert wurde, deren Rückgrat aus Teilen der Mittelschicht bestand und die schließlich vom faschistischen „Rechten Sektor“ und der „Swoboda“-Partei angeführt wurde.

Aber nachdem der reaktionäre Charakter der Übergangsregierung deutlich geworden ist, nachdem ihre Pläne zur Umsetzung der von IWF und EU diktierten Sparmaßnahmen, die Millionen von Menschen zur Armut verdammen würden, aufgedeckt wurden, und nachdem faschistische Banden einen bedeutenden Teil des Staatsapparates und der Sicherheitsdienste besetzt haben und ihre Straffreiheit für Angriffe auf die Bevölkerung und linke Aktivisten ausgenutzt wurde, haben die Arbeiter des ukrainischen Südens und Ostens gesagt: Genug ist genug! In einem Aufstand mit einer massiven Volksbasis haben sie in vielen Städten Bürgerkomitees und Selbstverteidigungsmilizen gebildet, Betriebe besetzt, zahlreiche Streiks ausgerufen und sich an die Spitze des Kampfes gegen die so genannte „faschistische Junta“ in Kiew gestellt.

Doppelmacht

Die Kiewer Regierung und die hinter ihr stehenden imperialistischen Mächte haben versucht, den revolutionären Aufstand mit einer Militäroffensive auf die wichtigsten Rebellenstädte zu stoppen, aber ihre Manöver sind kläglich gescheitert. Der Militarismus und die Gewalt, die von den westlichen Hauptstädten – Washington, London und Berlin – gegen die Zivilbevölkerung in der Südostukraine entfesselt werden, haben zu einem Erstarken der sezessionistischen Tendenzen und der Unterstützung für eine Vereinigung mit Russland geführt. Die Ergebnisse der Referenden in Donezk und Slawjansk, an denen viele Menschen teilnahmen, haben ein sehr klares Ergebnis gezeigt: Die Massen in diesen Gebieten ziehen die Vereinigung mit Russland der Herrschaft von Reaktionären und Faschisten vor, die die Zerstörung ihrer Lebensbedingungen und ihrer demokratischen Rechte vorbereiten.

Die Massenbewegung im Südosten begann am 3. März mit großen Demonstrationen gegen die Regierung in Kiew, bei denen die Föderalisierung des Landes und mehr Autonomie für die Regionen gefordert wurde. Doch die Militäroffensiven Kiews und die Aktionen der Faschisten haben die Bewegung nicht nur vergrößert, sondern auch radikalisiert.

In kaum mehr als zwei Monaten hat der Aufstand Ausmaße und Merkmale angenommen, die für die Imperialisten und die ukrainische Oligarchie unvorstellbar waren. Selbst viele Linke blicken mit Verwunderung auf die weit verbreitete Verwendung sowjetischer Symbole des Kampfes gegen den Faschismus – etwa das orange-schwarze St.-Georgs-Band, das den Sieg der UdSSR über Nazideutschland symbolisiert, oder die massive Präsenz roter Fahnen mit Hammer und Sichel bei Demonstrationen – ohne in der Lage zu sein, einige der charakteristischen Elemente eines revolutionären Prozesses zu erkennen, die jetzt in dieser Massenbewegung vorhanden sind, die einen guten Teil der Ukraine erschüttert.

Die imperialistische Propaganda – dieselbe Propaganda, die die faschistischen Banden des Maidan als „Freiheitskämpfer“ bezeichnete – versucht, den Volksaufstand als ein Manöver obskurer pro-russischer Separatistengruppen im Dienste Putins zu verunglimpfen. Wie die Bilder zahlreicher Videos im Internet zeigen, sind die wahren Protagonisten dieses Aufstands aber junge Menschen, Arbeiter, Rentner, Frauen – kurz gesagt: die Mehrheit der Bevölkerung, die seit Wochen mobilisiert ist, an Versammlungen teilnimmt, Gebäude besetzt und schützt, Barrikaden errichtet, die Nachhut der Milizen organisiert und sich den Panzern Kiews entgegenstellt.

Die Bewegung hat sich mit enormer Geschwindigkeit, Kühnheit und Entschlossenheit ausgebreitet. Innerhalb weniger Wochen haben Tausende von Menschen regionale und lokale Regierungsgebäude in einer Stadt nach der anderen besetzt, Polizeistationen und SBU-Zentralen (Anm. d. Ü.: SBU ist die Abkürzung des ukrainischen Inlandsgeheimdiensts) besetzt und Waffen beschlagnahmt. Auf der Krim, in Donezk, Charkow, Odessa und Mariupol wurden Volksrepubliken ausgerufen, die von Räten regiert werden, die sich aus demokratisch gewählten Vertretern in Massenversammlungen zusammensetzen. Die Regierung in Kiew hat erkannt, dass sie die Kontrolle über das Gebiet verloren hat und dass die eigentliche Macht im Südosten bei den Volksräten liegt. Auf die Frage, wie es nach dem 11. Mai weitergehen soll, antwortete Gennadi Chomino, einer der Anführer der Donezker Bevölkerung: „Zuerst muss das Referendum abgehalten werden, und dann wird unser Sowjet entscheiden, wohin wir gehen und wie wir dorthin kommen.“ (El Confidencial, 11.05.2014).

Trotz der intensiven Propagandakampagne, die immer wieder behauptet, dass Putin die Fäden des Aufstands im Südosten zieht, besteht in der Ukraine de facto eine Doppelherrschaft: Auf der einen Seite steht die Regierung in Kiew, die den Westen des Landes kontrolliert und sich dabei auf den Terror faschistischer Banden und die harte Repression gegen kommunistische Aktivisten und Gewerkschafter sowie gegen die jüdische Bevölkerung stützt, was viele zur Flucht in den Osten veranlasst hat, um diesen Angriffen zu entgehen; und auf der anderen Seite die Räte der Volksrepubliken, die den ukrainischen Südosten kontrollieren und regieren.

Die Arbeiterklasse drückt den Ereignissen ihren Stempel auf

Zeitgleich mit der Ausbreitung der Rebellion hat sich die Bewegung auch politisch weiterentwickelt. Das Ziel ist nicht mehr nur die Regierung in Kiew, sondern auch die Oligarchen und ihr Vermögen. Die Erklärung zur Ausrufung der Volksrepublik Charkow, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, schließt mit Forderungen nach einem „Ende der Ausbeutung der Arbeitskraft“ und nach einer „Bevorzugung kollektiver Eigentumsformen“. Am 25. April verbreitete die Volksrepublik Donezk einen Aufruf, in dem sie zur „Volkskontrolle über die Verteilung des von der Bevölkerung des Donbass geschaffenen Reichtums“ aufrief.

Die Militäroffensiven Kiews gegen Slawjansk und Kramatorsk und die Ermordung von 116 Menschen im Gewerkschaftshaus in Odessa durch Faschisten – eine Zahl, die von der Kiewer Regierung verschwiegen wird, die nur 42 Personen als Todesopfer anerkennt – markierten einen Wendepunkt. Seitdem ist die massive Beteiligung der Arbeiterklasse eine unbestreitbare Tatsache. Ein Bergarbeiter aus dem Donbass sagte vor einigen Wochen: „Viele in der Branche sind deshalb noch nicht gekommen, um die Proteste zu unterstützen, weil sie Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Wenn sie zwei oder drei Monate lang keinen Lohn erhalten haben, werden sie gehen, oder wenn es zu einem Überfall (auf besetzte Gebäude) kommt. Die Hungrigen haben nichts zu verlieren. Die Hungrigen sind bereit, alles zu tun.“ (The Guardian, 13.04.2014) Viele Arbeiter haben sich bisher nicht aktiv beteiligt, weil die Oligarchen, denen die Unternehmen gehören, jeden entlassen würden, der an einer Demonstration gegen die Regierung in Kiew teilnimmt. Jetzt ist die Angst weg, und die Ereignisse in Odessa und Slawjansk haben eine massive Welle von Streiks und Besetzungen ausgelöst.

Auf die Nachricht hin, was in Odessa geschah, stürmte eine Gruppe von Arbeitern die Büros des Unternehmens des Oligarchen Sergej Taruta, des von Kiew ernannten Gouverneurs von Donezk, der Eigentümer eines der größten Stahlwerke der Welt ist. Am 5. Mai berichtete Reuters, dass die „Privatbank“, die größte Bank der Ukraine, die dem Oligarchen Igor Kolomoisky gehört, der für die Finanzierung des „Rechten Sektors“ bekannt ist und zum Gouverneur von Dnipropetrowsk ernannt wurde, den Bargeldverkehr im Osten des Landes eingestellt hat, weil „in den letzten zehn Tagen 38 Geldautomaten, 24 Filialen und 11 gepanzerte Fahrzeuge der Privatbank in Donezk und Lugansk in Brand gesetzt oder überfallen wurden.“ In der letztgenannten Region wurden massenhaft Flugblätter verteilt, in denen zu lesen ist: „Privatbankangestellte sollten ihre Arbeit niederlegen, Privatbankkunden ihre Einlagen abheben. Eine faschistische Bank kann auf dem Gebiet von Lugansk nicht existieren.“ Dem Oligarchen Rinat Achmetow, dem wichtigsten Unterstützer Janukowitschs bis zu seinem Sturz, ist das gleiche Schicksal widerfahren. In der Stadt Enakiewo haben Bergleute und Metallarbeiter ein ihm gehörendes Stahlwerk besetzt.

Am 4. Mai übernahmen die Arbeiter nach einer Versammlung in Jenakiew, Oblast Donezk, die Kontrolle über das Hüttenwerk und riefen: „Wir werden Odessa nicht vergessen.“ Sie verlangten ein Treffen mit dem Direktor, um ihn zu zwingen, schriftlich festzuhalten, dass er niemanden entlassen würde, der an den Demonstrationen oder der Volksmiliz teilgenommen hatte, und traten anschließend in einen unbefristeten Streik.

Seit Ende April sind die Streiks in den Bergwerken und Fabriken im Südosten des Landes zu einem Massenphänomen geworden. Die streikenden Bergarbeiter in Enakiewo schlugen spontan einen politischen Streik im ganzen Land vor. Der Gedanke, Unternehmen und Banken zu boykottieren, die den Oligarchen gehören, wird immer populärer. In mehreren Fällen haben die Streiks, wie wir bereits erwähnt haben, zur Besetzung der Betriebe durch die Beschäftigten geführt. „Es gibt nur ein Ziel: Die Kiewer Behörden sollen gezwungen werden, ihre Truppen aus dem Donbass abzuziehen. In der Zwischenzeit haben Bergleute und Chemiker gemeinsam mit den Metallurgen gehandelt, der gesamte metallurgische Produktionszyklus ist praktisch zum Stillstand gekommen.“ (www.rabkor.ru, 05.05.2014) Insgesamt befinden sich im Donbass 8.000 Unternehmen in einem unbefristeten Streik bis zum Abzug der faschistischen Truppen und Banden aus Kiew.

Die Volksarmee des Südostens

Eines der großen Probleme des Imperialismus und der Regierung in Kiew ist der Zusammenbruch der ukrainischen Armee. Jede der „Anti-Terror“-Offensiven gegen den Südosten endete damit, dass Hunderte von Soldaten desertierten oder sich den Volksmilizen anschlossen, wobei alle Waffen und Ausrüstungen aus Kiew kamen. Um auf diese verzweifelte Situation zu reagieren, kündigte die Regierung die Schaffung einer Nationalgarde an, deren Zusammensetzung jedoch das Fehlen einer sozialen Basis offenbart: Sie besteht aus Faschisten des „Rechten Sektors“ und hunderten ausländischen Söldnern, die bei „Greystone Limited“ unter Vertrag stehen, einer Tochtergesellschaft des US-Unternehmens „Blackwater“, das für seine Beteiligung an den Kriegen im Irak und in Afghanistan bekannt ist.

Nach den ersten faschistischen Angriffen auf der Krim und in Donezk Anfang März bildeten sich in allen Städten des Südostens Volksmilizen zur Selbstverteidigung, die sich aus Jugendlichen und Arbeitern, Armee-Veteranen und kommunistischen Aktivisten zusammensetzten. Die Milizen koordinierten sich und gründeten die so genannte Südöstliche Volksarmee mit dem Ziel, die Durchführung des Referendums am 11. März zu gewährleisten und militärische Angriffe der Zentralregierung abzuwehren.

Die New York Times veröffentlichte einen Artikel über diese Volksmilizen und nannte als Beispiel eine der Schlüsseleinheiten bei der Verteidigung von Slawjansk, die 12. Kompanie der Miliz der Donezker Volksrepublik. Der Journalist zitierte die Worte eines ihrer Mitglieder namens Juri, eines ehemaligen Kommandeurs der russischen Spezialeinheiten in Afghanistan. Auf die Frage, ob er von einem Oligarchen für seine Mitgliedschaft in der Miliz bezahlt wurde, antwortete er: „Das ist kein Job, sondern ein Dienst, den ich erbringe.“ Über die Herkunft der Waffen sagte er, sie seien „von Polizeistationen und einer Kolonne gepanzerter Fahrzeuge aus Kiew erbeutet oder von korrupten ukrainischen Soldaten gekauft“ worden. Der Journalist erklärt, dass die Miliz von der Bevölkerung unterstützt wird und dadurch über ein „Netz von Beobachtern verfügt, die die ukrainischen Streitkräfte und die Faschisten ausspionieren“; zum Zeitpunkt des Interviews „baut eine Menschenmenge eine Barrikade und einen Bunker.“ Die Bevölkerung versorgt sie mit den notwendigen Lebensmitteln und die örtliche Polizei akzeptiert ihre Autorität und begleitet sie sogar auf Patrouillen. Die Kämpfer prangern die Faschisten und die Kiewer Rechte an, weil sie im „ukrainischen Westen ihr Gesicht gezeigt haben: Nazis, Faschisten... sie haben Lenins Denkmäler zerstört, sie haben unsere Geschichte angegriffen.“ (The New York Times, 03.05.2014)

Panik in Washington, Berlin und London, aber auch in Moskau

Die Imperialisten und die ukrainischen Reaktionäre in ihren Diensten beobachten die Geschehnisse in der Südostukraine mit großer Sorge. Aber Putin und seine kapitalistische Regierung sind auch nicht darüber erfreut, dass die Arbeiter sich organisieren, sich bewaffnen, offizielle Gebäude besetzen, Generalstreiks ausrufen und Komitees bilden. Putin und seine Getreuen – diese Ansammlung ehemaliger stalinistischer Bürokraten, die sich in die neue russische Bourgeoisie verwandelt haben, die durch die Plünderung des staatlichen Eigentums der UdSSR zu Multimillionären geworden sind, die ein autoritäres, bonapartistisches Regime durchgesetzt haben, die den großrussischen Nationalismus und das zaristische Erbe preisen, diese reaktionäre Pest, wie Lenin sie nannte – sie ist sich auch der Gefahr bewusst, die der Volksaufstand in der Ostukraine darstellt, nicht nur wegen der Möglichkeit eines regionalen militärischen Konflikts, sondern vor allem wegen der ansteckenden Wirkung, die er auf die Arbeiter Osteuropas und der ehemaligen Republiken der UdSSR haben kann.

Der US-amerikanische und europäische Imperialismus, aber auch die russische Regierung und die verschiedenen Oligarchien in der Region befinden sich in einem ernsten Dilemma. Wenn Kiew eine blutige Militäroffensive gegen den ukrainischen Südosten startet, wird dies eine Welle der Wut und Empörung auslösen, die die gesamte Region destabilisieren könnte. Wenn sie jedoch nachgeben und die Forderungen von Donezk und Lugansk akzeptieren, wird der Aufstand zu einem Bezugspunkt für die ukrainische, russische, tschetschenische, weißrussische oder georgische Arbeiterklasse, die ebenfalls unter den Folgen der Krise und der Herrschaft korrupter und mafiöser Oligarchien zu leiden hat.

Auch wenn die Imperialisten immer wieder mit dem Finger auf Putin zeigen und ihn für alles verantwortlich machen, ist es in Wirklichkeit so, dass Putin die Lösung des Konflikts genauso sehr will wie sie. Nach Odessa überraschte Putin alle mit einem neuen Vorschlag. Er forderte die Volksräte auf, das Referendum zu verschieben, kündigte den Rückzug von 40.000 Soldaten von der ukrainischen Grenze an und – was noch überraschender war – er akzeptierte und legitimierte die Präsidentschaftswahlen am 25. Mai, obwohl er diese Unterstützung von der Gewährleistung demokratischer Rechte abhängig machte. Die Volksräte akzeptierten Putins Vorschlag nicht und führten das Referendum am 11. Mai in Donezk und Lugansk trotzdem durch.

Hinter Putins Vorschlag steht nicht seine Sorge um das Leben oder das Schicksal der Jugendlichen und Arbeiter in der Südostukraine. Putin und die russische Oligarchie befürchten, dass die explosive Atmosphäre unter der Arbeiterklasse in diesen Gebieten auf die russischen Arbeiter übergreift und damit das russische Oligarchenregime selbst bedroht. Das ist der entscheidende Faktor für Putins Sinneswandel.

Ein weiterer Faktor sind die wirtschaftlichen Kosten der russischen Militärintervention. Die russische Wirtschaft befindet sich technisch gesehen bereits in einer Rezession: Im ersten Quartal dieses Jahres sank das russische BIP um 0,3 %. Der IWF hat seine entsprechende Wachstumsprognose für 2014 von 1,3 auf 0,2 % gesenkt, obwohl sie auch noch schlechter ausfallen könnte. „Unsere Prognose liegt jetzt bei 0,2 %, und es besteht die Möglichkeit, dass sie noch weiter gesenkt wird.“ (EFE, 30.04.2014).

Nach der Rezession 2008/09 konnte sich die russische Wirtschaft unter anderem dank der hohen Rohstoffpreise, insbesondere für Gas und Öl, erholen (die Exporte dieser beiden Produkte machen mehr als 50 % des russischen Haushalts aus). Aber seit 2012 sind die Preise gefallen, was sich sehr negativ auf die Wirtschaft ausgewirkt hat. Die russische Industrie steckt in einer schweren Krise: Anfang 2013 lag die Industrieproduktion um 23,1 % niedriger als 1990. In den Industrieregionen Sibiriens und des Nordwestens ist die Industrieproduktion um ganze 20,5 % zurückgegangen. Auch die Automobilproduktion ist zweistellig zurückgegangen: Die so genannten „Autostädte“ wie Kaluga oder Kaliningrad erleiden einen ähnlichen Niedergang wie etwa Detroit in den USA. In der chemischen Industrie hat sich die Produktion halbiert, in der Leichtindustrie ist sie um ein Fünftel und in der Ölindustrie um 6 % zurückgegangen.

Putins Regierung verfolgt die gleiche Politik wie ihre EU-Kollegen. Im Juli letzten Jahres hat sie allein für 2013 Haushaltskürzungen in Höhe von 33 Milliarden Dollar beschlossen, darunter Kürzungen bei den Renten, im Gesundheits- und Bildungswesen. Um die finanziellen Verpflichtungen des Staates zu erfüllen, hat die Regierung 300 Milliarden Rubel aus dem Haushaltsreservefonds freigegeben, was seit der Rezession 2008 nicht mehr geschehen ist. Putin hat bereits angekündigt, dass „einige weitere Einschnitte notwendig sein werden.“ Die Sparmaßnahmen werden sich jedoch nicht auf den Verteidigungshaushalt auswirken, da er „bis 2020 650 Milliarden Dollar für die Aufrüstung und Modernisierung der Streitkräfte betragen wird". (The Moscow Times, 05.09.2013)

Diese Politik wird nur dazu führen, dass die soziale Ungleichheit in Russland, die ohnehin schon zu den größten der Welt gehört, sich weiter verstärkt. Russland ist gemessen an der Zahl seiner Milliardäre eines der reichsten Länder der Welt, doch während eine Handvoll Oligarchen obszönen Reichtum anhäuft – ein Prozent besitzt 71 % des Vermögens – leben mehr als 18 Millionen Menschen in extremer Armut. Nach offiziellen Angaben verfügen 59,7 % der Bevölkerung in den Städten und 40,2 % auf dem Land über ein „geringes Einkommen“. Im November letzten Jahres weigerte sich die Duma (das Parlament), den monatlichen Mindestlohn zu erhöhen, der derzeit bei 5.205 Rubel (158 US-Dollar) liegt und damit 27 % unter der von der Regierung festgelegten Armutsgrenze von 215 US-Dollar. Die Durchschnittsrente lag 2012 bei 166 Dollar, was bedeutet, dass die meisten Rentner in Armut leben.

Die Krise in der Ukraine und der Ausbruch der Unruhen im Osten haben zu einer massiven Kapitalflucht aus den russischen Märkten geführt: Zwischen 45 und 50 Milliarden Dollar haben das Land seit Jahresbeginn verlassen. „Goldman Sachs prognostiziert, dass diese Zahl in diesem Jahr auf 130 Milliarden Dollar steigen könnte, was einer Verdoppelung gegenüber 2013 entspricht.“ (Reuters, 13.05.2014)

Kurz gesagt: Putin wird kaum mehr tun, als der Revolution in der Ostukraine eine Schlinge um den Hals zu legen. Er will nicht, dass die NATO an seinen Grenzen steht; er will nicht, dass seine Einflusszonen von den westlichen Imperialisten übernommen werden; er will nicht, dass seine Pläne zur Schaffung eines wirtschaftlich von Russland abhängigen Gebiets (mit Weißrussland, der Ukraine und den Kaukasusrepubliken) durch die Expansionsbestrebungen des westlichen Imperialismus durchkreuzt werden. Und um diese Ziele aufrechtzuerhalten, schwenkt das Putin-Regime das Banner des großrussischen Nationalismus – unterstützt durch die Führer der falsch benannten KP der Russischen Föderation unter Sjuganow – und nutzt dabei die Gefühle der Massen in der Ostukraine, ihre antifaschistische Haltung und die historische Erinnerung aus, die noch im Bewusstsein der Bevölkerung fortlebt.

Für den Sozialismus, für den Internationalismus und die Einheit der Arbeiter

Trotz der Verurteilungen und Drohungen des westlichen Imperialismus und trotz Putins Forderung nach einem Aufschub hielten Donezk und Lugansk schließlich am 11. März ihre Referenden ab. Um sie zu vereiteln, startete die Kiewer Regierung am Vortag eine Militäroffensive in Mariupol, um die Bevölkerung zu verängstigen und sie daran zu hindern, in Massen zur Wahl zu gehen, was schließlich zum Tod von mehr als 20 Zivilisten führte. Trotz alledem bildeten sich bereits am frühen Morgen lange Schlangen vor den Wahllokalen. Der Vorschlag zur Föderalisierung wurde mit überwältigender Mehrheit angenommen: 89 % in Donezk und 96 % in Lugansk stimmten bei einer Wahlbeteiligung von 74 % bzw. 75 % dafür. Unmittelbar nach Bekanntwerden des offiziellen Ergebnisses des Referendums kündigten Vertreter der Republiken Donezk und Lugansk die Abspaltung der beiden Regionen an und forderten die russische Regierung auf, „ihre Integration in die Russische Föderation zu prüfen.“

Die USA und die EU haben wieder einmal ihre üblichen Krokodilstränen vergossen und die Aufständischen beschuldigt, ein „illegales“ Referendum organisiert zu haben. Und das von denselben Leuten, die in den Irak einmarschiert sind, weil es dort angeblich Massenvernichtungswaffen gab, und in Afghanistan, wo sie schreckliche Kriege ausgelöst haben, in denen Millionen von Menschen starben. Dieselben Leute, die den Zusammenbruch des Stalinismus ausnutzten und die Bundesrepublik Jugoslawien zerstückelten, indem sie den ethnischen Hass förderten, um die Unabhängigkeit ihrer Teilstaaten zu erreichen und sie dann in unterwürfige Kolonien des Imperialismus zu verwandeln. Dieselben Leute, die die fundamentalistischen Milizen und Warlords in Syrien finanzieren und die Lebensbedingungen der europäischen Bevölkerung verschlechtern. Obama, Merkel und Co. bestehen immer wieder darauf, Putin die Schuld an den Geschehnissen zu geben, obwohl sie es sind, die mit ihren Manövern und Intrigen die aktuelle Krise in der Ukraine provoziert haben.

Russland seinerseits, das sich in einer heiklen Situation befindet und seine Glaubwürdigkeit bei den Menschen in der Ostukraine nicht verlieren will, hält sich zurück. Regierungssprecher Dmitri Peskow erklärte gegenüber der Zeitung „Kommersant“, dass es immer noch keine Antwort auf den Antrag der beiden Volksrepubliken auf Annexion durch Russland gebe. Moskau „respektiert den Willen der Menschen in Donezk und Lugansk und hofft, dass die praktische Umsetzung der Ergebnisse des Referendums auf zivilisierte Weise erfolgen wird“, sagte er. Er betonte außerdem die Notwendigkeit eines „Dialogs zwischen den Vertretern von Kiew, Donezk und Lugansk.“ (RT, 13.05.2014). Putin hält sich bewusst alle Optionen offen, indem er sich mit Argumenten für den Fall eindeckt, dass der Westen und seine Vasallenregierung in Kiew sich zu einer größeren militärischen Eskalation entschließen. Käme es zu einem Massaker an Rebellenstädten, dann würde sich Putin schwer tun, einzugreifen. Täte er es doch, dann ist nicht auszuschließen, dass er von der Zivilbevölkerung in der Region sogar als Retter begrüßt wird.

Wir sollten betonen, dass es ein Fehler ist, sich irgendwelchen Illusionen über die Absichten Putins oder der russischen Oligarchen hinzugeben. Auch wenn sich ihre Vorgehensweise und ihre Methoden im Fall der Ukraine von denen des US-amerikanischen und europäischen Imperialismus unterscheiden, dürfen wir ihre Klasseninteressen, die sie wirklich antreiben, und Putins Vorgehen in den Kriegen in Tschetschenien oder Südossetien nicht vergessen. Das russische kapitalistische Regime wird nicht zögern, das Recht der Menschen in Donezk und Lugansk, über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden, zu verraten, wenn das die „russischen Interessen“ schützt, d. h. die Interessen der großen Oligarchen, die Russland ausgeplündert haben, wie es ihre ukrainischen Pendants in der Ukraine getan haben. Genauso wenig wie die Arbeiterklasse die reaktionäre Regierung in Kiew oder die US- und EU-Imperialisten unterstützen kann, kann sie Putin und der russischen Oligarchie vertrauen oder sie unterstützen.

Leider sind die linken Organisationen in der Ukraine schwach oder werden, wie im Fall der Kommunistischen Partei, von alten Stalinisten geführt, die eine verworrene Position vertreten. Obwohl die regionalen Gliederungen der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU) im Südosten aktiv an der Bewegung beteiligt sind und mancherorts sogar maßgeblich an der Bildung von Selbstverteidigungsmilizen mitgewirkt haben, ruft die nationale Führung der KPU die Arbeiter im ukrainischen Westen nicht dazu auf, ihre Brüder im Südosten zu unterstützen und ebenfalls gegen die reaktionäre Regierung in Kiew aufzustehen. Ihre Alternative ist der „Dialog zwischen allen Parteien“, zu dem auch die unrechtmäßige Regierung und ihre faschistischen Partner gehören – dieselben, die die Büros der KPU stürmen und ihre Mitglieder verfolgen. Anstatt ein revolutionäres Programm für die Umgestaltung der Gesellschaft anzubieten, hält die Partei an der klassischen stalinistischen Position der Zusammenarbeit zwischen den Klassen fest, als ob der Dialog mit den Kapitalisten und Oligarchen die Herausforderungen der laufenden Revolution lösen würde. In Wirklichkeit ebnet eine solche Politik den Weg für die Niederschlagung des revolutionären Aufstandes.

Auch in der Westukraine haben die Massen noch nicht ihr letztes Wort gesprochen. Bisher haben sie sich nicht bewegt, unter anderem wegen der repressiven Politik der Regierung und der Aktionen der faschistischen Banden. Dennoch hat es in Kiew bereits einige Demonstrationen gegen die Regierung gegeben, und am 1. Mai gelang es der KPU, eine Demonstration mit mehreren Tausend Teilnehmern zu organisieren. Die Arbeiter in den westlichen Regionen leiden unter der gleichen Ausbeutung durch die Oligarchie, sie werden auch unter den vom IWF auferlegten Sparmaßnahmen und der Unterdrückung durch die Kiewer Regierung leiden. Daher kann die revolutionäre Bewegung der Arbeiter der Südostukraine nur dann erfolgreich sein, wenn sie sich auf den Westen ausbreitet. Es ist notwendig, die Einheit aller Arbeiter der Ukraine in einem Programm zu verteidigen, das revolutionäre und demokratische Forderungen mit der Enteignung der Oligarchen verbindet. Wenn die Arbeiter der Ostukraine ihre revolutionäre Bewegung zu Ende führen und gewinnen wollen, müssen sie ein sozialistisches, internationalistisches Programm der proletarischen Klassenunabhängigkeit aufstellen, das den Kampf nicht nur gegen die ukrainische Oligarchie und die westlichen Imperialisten, sondern auch gegen die falschen Freunde aus Russland aufnimmt, die trotz gegenteiligen Anscheins nur ihre Niederlage wollen.

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