Mobilisiert die Massen mit einem sozialistischen Programm!
Am 21. November finden in Chile Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Diese werden die am stärksten Polarisierten in Jahrzehnten sein. Die Umfragen sagen ein ausgeglichenes Ergebnis in der ersten Runde zwischen Gabriel Boric von der Linkskoalition Apruebo Dignidad (bestehend aus Frente Amplio und der Kommunistischen Partei) und dem rechtsextremen José Antonio Kast voraus. Beide Kandidaten kommen auf etwa 30 % der Stimmen, doch bei 30 % unentschlossenen Wählern und einer Wahlenthaltung von über 40 % ist das Endergebnis noch offen.
Yasna Provoste, die christdemokratische Kandidatin der Concertación (einer Koalition aus Sozialistischer Partei und Christdemokratie) hätte noch eine Chance, während Sebastián Sichel, der Kandidat Piñeras, angesichts der massiven Ablehnung der Regierungsführung, der sich verschlechternden Wirtschaftslage und der Verwicklung von Präsident Piñera in die „Pandora-Papers“ an Chancen zu verlieren scheint.
Die Mehrheit der Umfragen spricht Boric den Sieg in der zweiten Runde zu. Das zeigt, dass das Kräfteverhältnis weiterhin günstig für die Linke ist. Der schillernde Aufstieg Kasts – ein bürgerlicher Politiker mit ähnlicher Rhetorik und einem vergleichbaren Programm wie Trump, Bolsonaro und Vox – stellt jedoch eine echte Bedrohung dar. Sein Vorstoß stellt der gesamten kämpferischen Linken und allen Aktivisten die Frage, was seit dem massenhaften Aufstand vom 18. Oktober 2019 geschehen ist: Welche Schlussfolgerungen können aus den parlamentarischen Manövern der herrschenden Klasse und der Strategie, die auf eine „progressive Reform“ des chilenischen Kapitalismus abzielt, gezogen werden?
Zwei Jahre nach dem Ausbruch der Revolution
Der 18. Oktober 2019 eröffnete eine revolutionäre Situation. Die Kampfbereitschaft der Jugend steckte die gesamte Arbeiterklasse und die Unterdrückten an, führte zu Generalstreiks und Massendemonstrationen und zog weite Teile der Mittelschichten mit. Die Bewegung entwickelte Ansätze von Arbeitermacht: Versammlungen und „öffentliche Sitzungen“, die die Mobilisierung von unten stärkten und der brutalen Unterdrückung durch die Piñera-Regierung entgegentraten, die zu Dutzenden von Toten, Hunderten von Verletzten und Tausenden von Verhaftungen führte. Hätten die Führer der CCP und der CUT zu einem unbefristeten Generalstreik aufgerufen, um diese Machtorgane zu erweitern und zu vereinigen, wäre Piñera nicht nur abgesetzt und wegen der Verbrechen gegen das Volk vor Gericht gestellt worden, sondern es hätten sich auch enorme Möglichkeiten für die sozialistische Umgestaltung Chiles eröffnet.
Diese Strategie wurde jedoch von den reformistischen Führern der Linken verworfen. Die Unterzeichnung des Abkommens für den sozialen Frieden und die neue Verfassung zwischen den Führern der PS und der FA mit Piñera und seinen Gefolgsleuten und die anschließende Annahme dieses Paktes durch die PCCh bedeutete eine Abschwächung des Kampfes auf der Straße, die Rettung des Mörders Piñera und die Möglichkeit für die herrschende Klasse, sich neu zu organisieren. So wurde die Aktion der Massen durch die verfassungsgebende Versammlung auf das parlamentarische Terrain verlagert und die revolutionäre Krise trat in eine andere, viel kontrolliertere Phase ein, auch wenn sie nicht aufhörte.
Die Arbeiterklasse und die Jugend brachten ihren Wunsch nach Veränderung erneut im Referendum vom Oktober 2020 zum Ausdruck, bei dem die Ausarbeitung einer neuen Verfassung beschlossen wurde, sowie bei den Wahlen zum Verfassungskonvent im Mai dieses Jahres. Die linken Kandidaten der PS, vertreten durch Apruebo Dignidad und die Volksliste (unabhängige Kandidaten, die von Volksversammlungen, feministischen und indigenen Kollektiven, sozialen Bewegungen usw. aufgestellt wurden), erhielten mehr als 35 % der Stimmen und 40 % der Sitze.
Mit Daniel Jadue an der Spitze von Apruebo Dignidad, der das Rennen um die Präsidentschaftskandidatur anführt, entfachte die Bourgeoisie eine Kampagne der Angst, indem sie diese Option mit einer „kommunistischen Diktatur“ gleichsetzte und das Schreckgespenst der Krise in Kuba und Venezuela beschwörte. Die Führer der PCCh weigern sich, auf diese Offensive auf die einzig richtige Weise zu reagieren: Durch die klare und entschlossene Verteidigung eines sozialistischen Programms, das alle Bestrebungen und Hoffnungen des Volkes verkörpert.
Die Unterzeichnung des Abkommens für den sozialen Frieden und die neue Verfassung zwischen den Führern der PS und der FA mit Piñera und seinen Gefolgsleuten und die anschließende Annahme dieses Paktes durch die PCCh bremsten den Kampf auf der Straße aus.
Das Ergebnis war, dass Daniel Jadue die Vorwahlen von Apruebo Dignidad verlor, während Boric, der sich als Verfechter einer „realistischen“ und „integrativen“ Linken präsentierte, gewann. Offensichtlich ist der rechte Flügel weit davon entfernt, die Situation unter Kontrolle zu haben, und sie führen die gleiche Angstkampagne gegen Boric fort.
Die Bourgeoisie greift an
Schon vor der Covid-19-Pandemie war Chile eines der gespaltensten Ländern der Welt. Nach Angaben des Entwicklungsministeriums verdienten die reichsten 10 % während der Pandemie 416,6 Mal mehr als die ärmsten 10 %. Darüber hinaus wurden zwei Millionen Arbeitsplätze vernichtet (von denen nur eine Million wiederhergestellt werden konnte) und der Teil der Bevölkerung, der in Armut lebt, liegt nach offiziellen Angaben bei 10,8 Prozent, wird aber in unabhängigen Studien auf 26 Prozent und in einigen auf 39 Prozent geschätzt. Die Inflation ist von 3 auf 4,4 % gestiegen und könnte bis Ende des Jahres 5 % übersteigen.
In dem Bemühen, ein neues soziales Aufbegehren zu vermeiden, musste die Bourgeoisie im Parlament drei Renten-Vorschüsse in Höhe von 10 % der privaten Rentenfonds (AFP) genehmigen, und der Kongress debattiert derzeit einen vierten. Die Tiefe der Krise führt dazu, dass 10 Millionen Arbeitnehmer (bei einer Bevölkerung von 19 Millionen) auf diese Vorschüsse zurückgreifen mussten, welche von ihren künftigen Renten abgezogen werden, und zwar in Höhe von 50 Milliarden Dollar.
Kast nutzt die Wirtschaftskrise demagogisch, um sich von Piñera, zu dessen Partei er gehört, zu distanzieren und auf die Verzweiflung breiter Teile der Mittelschicht zurückzugreifen. Dazu instrumentalisiert er auch Fremdenfeindlichkeit gegenüber Einwanderern, Sexismus und LGTBI-Feindlichkeit, welche für die extreme Rechte typisch sind, und sucht die Unterstützung der katholischen und der evangelischen Kirchen, um seine Verankerung in den Volksschichten zu erhöhen. Sie macht die „Untätigkeit“ des Verfassungskonvents zum Thema, um demoralisierte Sektoren zu mobilisieren, die sehen, wie die Debatten in der verfassungsgebenden Versammlung immer weitergehen und ihre Probleme nicht gelöst werden.
Wie wir in anderen Artikeln erläutert haben, hat der Verfassungskonvent (die Bezeichnung für die verfassungsgebende Versammlung) die Macht der Kapitalisten und ihre Kontrolle über die Wirtschaft, die Justiz, die Polizei und die Armee unangetastet gelassen. Außerdem hat die Bourgeoisie ein Minimum von einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Konvent festgelegt, was es ihr ermöglicht, Maßnahmen, die ihren Interessen widersprechen, zu stoppen, indem sie die Abgeordneten der Piñeristischen Rechten, der DC und der PS benutzen.
Wichtig ist, in diesem Zusammenhang auch auf die Spaltung hinzuweisen, welche in der herrschenden Klasse zu beobachten ist. Es gibt Sektoren, die nicht darauf vertrauen, dass der Konvent es schafft, die Massen zu überzeugen. Deshalb unterstützen sie Kast, um eine repressive Offensive vorzubereiten, die die Bewegung auf der Straße ein für allemal zerschlägt. Natürlich gibt es auch einen anderen Sektor, der zwar die Ansicht teilt, dass der revolutionäre Prozess im Keim erstickt werden muss, der aber befürchtet, dass eine verfrühte Entscheidung für die extreme Rechte eine massive Reaktion hervorrufen würde, und der weiterhin auf das Bündnis zwischen DC und PS setzt, welches ihm seit dem Ende der Diktatur so gute Ergebnisse beschert hat.
Dieser Sektor versucht um jeden Preis, den Kandidaten der Concertación in die zweite Runde zu bringen, indem er sich den sozialen Frieden und die Versöhnung auf die Fahne schreibt, um einen Sieg von Boric zu verhindern. Sie glauben, dass er trotz der Grenzen seines reformistischen Programms die Mobilisierung der Massen fördern könnte. Sollte ihnen das nicht gelingen, werden sie versuchen, genügend Sitze zu erringen, um das neue Parlament zu kontrollieren, wie sie es beim Konvent tun, um Boric im Falle seines Sieges zu einzuschränken.
Die Kandidaten der Linken unterstützten diesen Ansatz. Boric mäßigt sein Programm auf der Suche nach den „Stimmen der Mitte“, um ein Gegengewicht zu Kast zu schaffen. Aber unter den Bedingungen einer so extremen Polarisierung und einer so akuten sozialen Krise kann diese Politik der Beschwichtigung über kurz oder lang nur die rechte Reaktion stärken.
Für eine Arbeiterregierung mit einem sozialistischen Programm!
Solange die Kapitalisten über die Banken, das Großkapital, den Landbesitz und den Staatsapparat verfügen, werden sie diese enorme Macht nutzen, um jedes linke Parlament und jede Regierung zu sabotieren. Keine verfassungsgebende Versammlung, egal wie „frei“ und „souverän“ sie sich selbst bezeichnen möchte, kann diese Macht durch das parlamentarische Spiel (angeleitet von der Bourgeoisie) herausfordern.
Es steht viel auf dem Spiel. Die revolutionäre chilenische Linke steht in der Pflicht, sich an den Wahlen zu beteiligen, sei es an den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung, zum Parlament oder an den Präsidentschaftswahlen, um die breitesten Teile der Arbeiterklasse und der Jugend zu erreichen. Aber sie muss das tun, indem sie ein Klassenprogramm vorlegt, mit sozialistischen Forderungen, die das Bewusstsein und die Organisation der Unterdrückten in den Vordergrund stellt und seinen Horizont nicht auf einen Kapitalismus „mit menschlichem Antlitz“ reduziert.
Die Zurückhaltung der reformistischen Führer hat die direkte Aktion der Massen in den letzten zwei Jahren abgeschwächt, aber die letzten Monate zeigen einen Aufschwung in den Kämpfen und einen fruchtbareren Boden für die Ideen des revolutionären Marxismus, um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Offensichtlich war die Erfahrung, die Tausende mit dem Verfassungskonvent gemacht haben, nicht umsonst.
Die Frauenbewegung für das Recht auf Abtreibung zwang den Kongress, für die Entkriminalisierung der Abtreibung während der ersten 14 Monate der Schwangerschaft zu stimmen. Der Druck von unten zwang auch zum Rückzug bei den Rentenfonds. Darüber hinaus wurde bei zahlreichen Mobilisierungen eine Amnestie für die Hunderten von politischen Gefangenen gefordert, die seit 2019 inhaftiert sind. Diese Forderungen trafen am 18. Oktober, dem zweiten Jahrestag des Aufstands, mit einem Kampftag zusammen, der von der Regierung gewaltsam unterdrückt wurde. Gleichzeitig reagierte Piñera auf die Massenmobilisierung der Mapuche für Land und die Achtung ihrer Rechte mit der Verhängung des Ausnahmezustands in mehreren Regionen.
Diese Ereignisse zeigen, dass es immer noch möglich ist, die kapitalistische Strategie von Zermürbung und Demoralisierung der Bewegung zu besiegen. Aber die revolutionäre und kämpferische Linke muss in ihrer öffentlichen Agitation eine Kehrtwende machen und ein für alle Mal mit der Forderung nach einer „freien und souveränen verfassunggebenden Versammlung“ brechen, die sie über die Verteidigung eines sozialistischen Programms stellt.
Indem wir einen Aktionsplan gegen die kapitalistische Offensive aufstellen, Volksversammlungen, Komitees und Räte organisieren und sie ausweiten um für eine Arbeiterregierung zu kämpfen, welche die Banken, die großen Monopole und den Landbesitz verstaatlicht und den Repressionsapparat des Staates zerstört, werden wir in der Lage sein, die demokratischen und sozialen Forderungen zu verwirklichen, für die das chilenische Volk so heldenhaft gekämpft hat!