Dieser Artikel erschien im März 2008 in mehreren Teilen auf Spanisch.
In der Hochphase von Börsen- und Immobilienspekulation gewann der Begriff „Tugendkreis“ innerhalb der Wirtschaftspresse an Beliebtheit. Er sollte das Wachstumsmodell des letzten Jahrzehnts beschreiben und die falsche Vorstellung vermitteln, dass der ewige Zyklus von wirtschaftlichem Boom und Rezessionen nun durchbrochen wurde. Wie üblich in Zeiten großer Unternehmens- und Finanzgewinne, gerieten die Erfahrungen früherer Krisen schnell in Vergessenheit, und es fehlte nicht an „Theoretikern“, die bereit waren, ihr „Wissen“ in den Dienst von den neuen Bedürfnissen kapitalistischer Propaganda zu stellen.[1]
Die Dialektik von Klassenkampf und Wirtschaftskreislauf
Die marxistische Krisentheorie geht davon aus, dass das kapitalistische System eine innere Dynamik von wiederkehrenden Zyklen wirtschaftlicher Booms und Rezessionen hat, die durch Überproduktion und die Überakkumulation von Kapital ausgelöst werden. Leo Trotzki erklärt diese Theorie in dem Artikel „Die Kurve der kapitalistischen Entwicklung“, der der Theorie der „langen Wellen“ des russischen Ökonoms Kondratjew[2] gewidmet ist:
„[...] Der Kapitalismus ist nicht nur durch diese wiederkehrenden Zyklen gekennzeichnet, sonst wäre die Geschichte nur eine komplexe Wiederholung statt einer dynamischen Entwicklung. Industrielle Zyklen haben in unterschiedlichen Perioden einen unterschiedlichen Charakter. Der Hauptunterschied zwischen ihnen ist durch die quantitativen Wechselbeziehungen zwischen der Krisen- und der Boomperiode innerhalb eines gegebenen Zyklus bestimmt. Wenn der Boom die Zerstörungen oder Kontraktionen der vorangegangenen Krise mit einem Surplus beseitigt, dann bewegt sich die kapitalistische Entwicklung insgesamt nach oben. Wenn die Krise, die Zerstörung bedeutet, oder zumindest eine Schrumpfung der Produktivkräfte, in ihrer Intensität den entsprechenden Boom übertrifft, dann haben wir als Resultat einen Niedergang der Wirtschaft. Schließlich haben wir, wenn die Krise und der Boom sich in ihren Auswirkungen gegenseitig entsprechen, ein zeitweiliges und stagnierendes Gleichgewicht in der Wirtschaft. Das ist das Schema in groben Umrissen. [...] Es gibt ganze Epochen in der kapitalistischen Entwicklung, in denen eine Anzahl von Zyklen durch stark ausgeprägte Booms und schwache kurzlebige Krisen charakterisiert sind. Das Resultat ist eine scharf ansteigende Bewegung der grundlegenden Kurve der kapitalistischen Entwicklung. Man erhält Epochen der Stagnation, wenn diese Kurve, während sie zyklische Schwankungen durchmacht, während Jahrzehnten auf ungefähr derselben Ebene bleibt. Und endlich fällt die grundlegende Kurve in bestimmten geschichtlichen Perioden, während sie auch hier zyklische Schwankungen durchmacht, in ihrer Gesamtheit; einen Niedergang der Produktivkräfte signalisierend.“[3]
Wenn der Marxismus sich mit der Dynamik des Wirtschaftskreislaufs und der Charakterisierung einer bestimmten historischen Epoche befasst, berücksichtigt er nicht nur die Faktoren, die sich aus dem Produktions- und Zirkulationsprozess ableiten, sondern auch politische und ideologische Aspekte, die Teil des gesellschaftlichen Überbaus sind und eine enorme Bedeutung für die Entwicklung der Wirtschaft und der Geschichte haben (wie Streikniederlagen, dem Scheitern revolutionärer Bewegungen, Krieg zwischen Nationen und imperialistischen Interventionen, religiösen Entwicklungen...). Die Beziehung zwischen Klassenkampf und Wirtschaftskreislauf ist eng, komplex und dialektisch.[4]
Ausgehend von Trotzkis Ideen können wir, wenn wir uns mit der Geschichte des Kapitalismus auseinandersetzen, Zeiträume sehen deren wirtschaftlicher Ab- oder Anstieg nicht strikt nur von ökonomischen Phänomenen bestimmt wurden: „Was die großen Abschnitte (50 Jahre) der Entwicklungskurve des Kapitalismus betrifft, [...] so sind ihr Charakter und ihre Länge nicht durch die inneren Wechselwirkungen der Kräfte des Kapitalismus bestimmt, sondern durch jene externen Faktoren, die die Bahn bilden, in der die Entwicklung des Kapitalismus verläuft. Die Einverleibung neuer Länder und Kontinente durch den Kapitalismus, die Entdeckung neuer natürlicher Ressourcen und in deren Gefolge, solche Hauptereignisse im Bereich des ‚Überbaus' wie Kriege und Revolutionen determinieren den Charakter und das Abwechseln von ansteigenden, stagnierenden oder niedergehenden Epochen der kapitalistischen Entwicklung.“[5]
Zwischen 1848-68 blühte der europäische Kapitalismus auf und befand sich in einer Ära des Aufstiegs und der Entwicklung der Produktivkräfte. Dies war politisch durch die Niederlage der europäischen Revolution von 1848 bedingt. Der französisch-preußische Krieg und der Triumph der Pariser Kommune resultierten in Stagnation und einer Krise des Kapitalismus. Eine neue Phase des Aufstiegs wurde durch die Niederlage der Pariser Revolution und die deutsche Vereinigung bedingt und dauerte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs an.
Ähnlich dauerte die Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg in den entwickelten kapitalistischen Ländern 25 Jahre an, in denen Vollbeschäftigungsraten, spektakuläre Gewinnzuwächse und Prozentsätze produktiver Reinvestitionen erreicht wurden, die danach nie wieder erreicht wurden. Politische Faktoren sorgten für diesen außerordentlich starken Aufschwung, hauptsächlich die Entwaffnung der Partisanenarmeen und die Niederlage der sozialistischen Revolution in Frankreich, Italien und Griechenland, zusätzlich zu der massiven wirtschaftlichen Hilfe, die der amerikanische Kapitalismus durch den Marshallplan einem vom Krieg verwüsteten und vom Triumph des Stalinismus an seinen östlichen Grenzen bedrohten Westeuropa gewährte. Diese Wachstumsperiode wurde erst Ende der 1960er Jahre erschöpft, als es im Mai 1968 zu einer revolutionären Situation in Frankreich kam, zum Streikboom in den USA und zur revolutionären Offensive in den Kolonialländern. Sie läuteten das Ende einer goldenen Ära und den abrupten Übergang in eine neue Phase der Rezession und der revolutionären Umwälzungen in den 1970er Jahren ein.
Im Gegensatz dazu waren die zweieinhalb Jahrzehnte zwischen den beiden Weltkriegen, von 1914 bis 1939, durch eine Überproduktionskrise, den Krieg und die revolutionäre Offensive des Proletariats gekennzeichnet. Das Ende des Ersten Weltkriegs markierte eine besonders stürmische Periode in der Geschichte des Kapitalismus, die mit dem Triumph der russischen Revolution im Oktober 1917 begann und deren Auswirkungen sich auf Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien und Italien erstreckten. Diese Periode endete teilweise mit der Niederlage der deutschen Revolution 1923, die eine direkte Folge der wirtschaftlichen Reparationen war, die durch den Versailler Vertrag bestimmt wurden.[6] Sicherlich gab es Jahre des Aufschwungs und Stabilität, wie die zwischen 1923 und 1928, aber sie spiegelten nicht den allgemeinen Trend dieser Periode wider, welche zwischen Revolution und Konterrevolution hin und her gerissen war.
Wirtschaftliche Faktoren, wie der Crash von 1929, lösten in Westeuropa, insbesondere in Deutschland, Österreich und Spanien, erneut revolutionäre Tatkraft aus. Das Scheitern der Arbeiter, die Macht zu übernehmen, war eine direkte Folge des politischen Bankrotts der sozialdemokratischen und stalinistischen Führungen und ebnete den Weg für den Triumph von Faschismus und Krieg. Kurz gesagt, mit dem revolutionären Aufstieg der Massen vor Augen traf die herrschende Klasse die Entscheidung, einen 6 Jahre langen Weltkrieg nicht zu verhindern, mit dem Interesse der allgemeinen Stabilität des Systems und der Wahrung seiner Interessen, und nahm somit die größte Zerstörung der Produktivkräfte in der Geschichte des Kapitalismus in Kauf.
Ein grundlegender Epochenwandel
Offensichtlich hat jede Periode der kapitalistischen Entwicklung unterschiedliche Charakteristiken und widersprüchliche Auswirkungen auf die Klassenbeziehungen und das proletarische Bewusstsein. Im Allgemeinen bringen die langen Perioden des kapitalistischen Aufschwungs und der Stabilisierung auch eine politische Dominanz der reformistischen und eher rechten Tendenzen innerhalb der Arbeiterbewegung mit sich, was, wie die Geschichte bestätigt, Momente des Aufschwungs im Klassenkampf oder sogar offen revolutionäre Momente nicht ausschließt.
Die Gleichungen „Boom gleich Reaktion“ oder „Rezession gleich Revolution“ vereinfachen die Realität des Klassenkonflikts immens. Die Erfahrungen der letzten fünf Jahre waren in dieser Hinsicht lehrreich. In einer Periode des Wirtschaftswachstums, gemessen an den makroökonomischen Zahlen, haben wir eine Ausweitung von Ungleichheit und Prekarisierung, politischer Polarisierung und eine Zunahme des Klassenkampfes in der ganzen Welt erlebt, die im Kontrast zum Ton des vorangegangenen Jahrzehnts steht, welches zweifellos durch die wirtschaftlichen und politischen Folgen des Zusammenbruchs des Stalinismus gekennzeichnet war. Mit den Mobilisierungen von zig Millionen Menschen gegen den imperialistischen Krieg im Irak bis hin zur Welle von Generalstreiks in Europa (Frankreich, Italien, Österreich, Griechenland, Portugal, Spanien...) oder den revolutionären Bewegung der lateinamerikanischen Massen nach Jahren massiver Privatisierungen und der Niederlage der Guerilla, signalisiert der Beginn des 21. Jahrhunderts einen klaren Bruch mit der vorhergehenden Periode; ein Bruch, der in den kommenden Jahren angesichts der Schwere der internationalen Wirtschaftskrise noch ausgeprägter sein wird.
Kurz gesagt, und um Trotzkis Worte wieder aufzugreifen: „(...) Die Epochen starker kapitalistischer Entwicklung müssen– in Politik, Gesetzen, Philosophie, Poesie – Charakterzüge haben, die sich stark von denen unterscheiden, die der Epoche der Stagnation oder des wirtschaftlichen Niedergangs entsprechen. Außerdem muss ein Übergang von einer Epoche dieser Art zu einer anderen zwangsläufig die größten Überwerfungen zwischen den Klassen und zwischen den Staaten hervorrufen. Auf dem Dritten Weltkongress der Komintern haben wir – im Kampf gegen eine einseitige, mechanistische Konzeption des gegenwärtigen kapitalistischen Zerfalls – auf diesen Punkt bestanden. Wenn der periodische Wechsel zwischen „normalen“ Hochkonjunkturen und „normalen“ Krisen seinen Ausdruck in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens findet, dann führt ein Übergang von einer Epoche des Aufstiegs zu einer Epoche des Niedergangs oder umgekehrt zu den größten historischen Umwälzungen, und es ist nicht schwer zu zeigen, dass sich in vielen Fällen Revolutionen und Kriege zwischen der Demarkationslinie zweier verschiedener Epochen der wirtschaftlichen Entwicklung abspielen , zum Beispiel die Vereinigung zweier verschiedener Segmente der kapitalistischen Kurve. Die gesamte moderne Geschichte aus diesem Blickwinkel zu analysieren, ist wirklich eine der lohnendsten Aufgaben des dialektischen Materialismus.“[7]
[1] Die Offensive war so stark, dass in den Reihen der Sozialdemokratie ein Wettlauf um die Frage lostrat, wer die Marktwirtschaft und ihre Vorteile leidenschaftlicher verteidigen konnte. Dies waren die guten Zeiten von New Labour und der soziologischen „Entdeckungen“ von Anthony Giddens, dem Vater des „dritten Weges“, der heute eindeutig im Niedergang ist. Diese Bandbreite revisionistischer und versöhnlicher Vorstellungen vom Kapitalismus, die durch den Zusammenbruch der stalinistischen Regime im Osten gestärkt wurden, versuchte, das endgültige „Scheitern“ des Marxismus als Alternative zur gegenwärtigen kapitalistischen Wirtschaft empirisch zu beweisen.
[2] Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew. Direktor des Moskauer Wirtschaftsforschungsinstituts in den frühen 1920er Jahren. Er war ein origineller Wirtschaftswissenschaftler, der, wie viele andere prominente Intellektuelle dieser Zeit, von Stalin geläutert und schließlich in einem Arbeitslager eingesperrt wurde, wo er starb.
[3] Trotzki, „The Curve of Capitalist Development“, 1923, MIA, <http://www.marxists.org/archive/trotsky/1923/04/capdevel.htm>; Leo Trotzki, „Die Kurve der kapitalistischen Entwicklung (Deutsche Erstveröffentlichung)“, in: Parvus, Karl Kautsky, Leo Trotzki, N. D. Kondratieff und Ernest Mandel, „Die langen Wellen der Konjunktur - Beiträge zur Marxistischen Konjunktur- und Krisentheorie“, Berlin/W., 1972, S. 121 ff.
[4] Die Theoretiker des Reformismus und der Bourgeoisie haben die Methode des Marxismus immer als Determinismus und Ökonomismus karikiert, obwohl gerade die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus diese Art von Vorwürfen ausdrücklich zurückgewiesen haben: „Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase.“ (Friedrich Engels an Joseph Bloch (21./22. September 1890), in: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 37, Berlin 1967, S. 463)
[5] Leo Trotzki, a.a.O.
[6] Este periodo concluyó, parcialmente, con la derrota de la revolución alemana en 1923, consecuencia directa de las intolerables reparaciones económicas dictadas en el Tratado de Versalles. https://izquierdarevolucionaria.net/index.php/historia-teoria/economia/4756-crac-financiero-y-sobreproduccion-la-vigencia-de-la-teoria-marxista-sobre-las-crisis-capitalistas-3
[7] Leo Trotzki, eigene Übersetzung der oben aufgeführten englischsprachigen Quelle