„L’Onze de Setembre“ (katalanisch für 11. September, Nationalfeiertag Kataloniens, Anm. d. Ü.) hat dieses Jahr in Katalonien ein wahres politisches Erdbeben ausgelöst. Die Größe und der Kampfgeist der zentralen Demonstration unter der Führung der ANC haben die enorme Kraft und die Reserven der nationalen Befreiungsbewegung im Kampf für die katalanische Republik gezeigt, aber auch das tiefe Unbehagen gegen die Strategie und die Politik des sozialen Friedens und der Kooperation mit dem Regime von 78 durch die ERC-Junts-Regierung.
Mehr als 700.000 Menschen haben die Hauptstraßen Barcelonas überschwemmt, über mehrere Kilometer hinweg zwischen Parallel und Estació de França, bei einer Demonstration, die selbst kapitalistische Medien wie La Vanguardia als die größte in Europa seit Ausbruch der Pandemie anerkennen mussten!
Eine starke Botschaft gegen das verrottete Regime von 78, seine Justiz und seinen von Francoisten durchseuchten Staatsapparat; gegen Feijóo, die PP, Vox und die spanische Rechte und auch gegen Pedro Sánchez, der, nachdem er sich in der Pegasus-Affäre (Spionageskandal, bei dem auf den Handys und Geräten mehrerer katalanischer separatistischer Politiker die Spionagesoftware Pegasus gefunden worden war, Anm. d. Ü.) voll hinter die Behörden gestellt hatte, wenige Tage vor dem Nationalfeiertag stolz seine Unterstützung für die Repression verkündete.
Die Krise der Unabhängigkeitsbewegung. Die ANC fordert Taten von der katalanischen Regierung
Der Aufschrei gegen das 78er-Regime wurde von Transparenten, Rufen und Parolen begleitet, die eine deutliche Ablehnung der Politik der ERC-Junts-Regierung zum Ausdruck brachten, die gegenüber dem spanischen Staatsapparat völlig machtlos ist und den Kampf für Amnestie, Selbstbestimmung und die katalanische Republik praktisch aufgegeben hat.
Ein Beweis dafür ist die Weigerung des Präsidenten der Generalitat, Pere Aragonès, Minister und der wichtigste Führer der ERC, an der ANC-Demonstration teilzunehmen. Das hatte jedoch den gegenteiligen Effekt, als sie angestrebt hatten, indem es die Kritik an ERC und Junts noch weiter verschärfte und eine noch größere Krise innerhalb der Regierung auslöste, die jetzt ihren Fortbestand gefährdet.
Die ANC selbst hat angesichts dieser wachsenden Empörung und des Wunsches von Millionen Katalanen, den Kampf für die katalanische Republik fortzusetzen, gefordert, dass die Regierung, ERC und Junts, wenn sie schon nicht in der Lage sind, sich in Richtung Unabhängigkeit zu bewegen, jetzt Wahlen ausrufen sollten. Sie haben sogar auf die Möglichkeit hingewiesen, eine eigene Wahlliste aufzustellen, um diesen Kampf fortzusetzen. Gleichzeitig haben sie gefordert, dass in der zweiten Hälfte des Jahres 2023 eine neue Verfassung vorgelegt wird, die die Tatsache ausnutzt, dass der spanische Staat die EU-Präsidentschaft innehaben wird.
Entwicklungen, die auf eine ganz klare objektive Realität reagieren. Die völlige Aufgabe eines konsequenten Kampfes für die Republik durch ERC und Junts, die sich in hohle Reden flüchten, die kapitalistische Politik zugunsten der katalanischen und spanischen Bourgeoisie und der Wiederaufbau aller Verbindungen zu dem Regime von 78, seinen Institutionen und der kapitalistischen Legalität, mit der es unmöglich ist, die Selbstbestimmung zu erreichen.
Die Situation verbessert sich nicht nur nicht, sie verschlechtert sich sogar. Wir kommen nicht nur nicht auf dem Weg zur Republik voran, sondern die Repression der spanischen Reaktion und des Staatsapparats nimmt weiter zu und bedroht die historischen Rechte. Das haben wir mit dem Urteil gegen die katalanische Sprache gesehen, das dem Sprachunterricht ein Ende setzen soll, mit den Hunderten von Verfahren, die gegen Unabhängigkeitsbefürworter eröffnet wurden, mit der Disqualifizierung von Beamten und so weiter.
Jetzt droht sogar ein ermutigter Oberster Gerichtshof mit einer Überprüfung der Begnadigungen. Eine Offensive gegen die demokratischen Rechte, die nicht nur in Katalonien stattfindet und die die Tendenz im Spanischen Staat – aber auch in Europa und dem Rest der Welt – zu immer autoritäreren Regimen und dem Aufstieg einer extremen Rechten, die dem Faschismus immer näher kommt, widerspiegelt.
Repression, an der auch die Regierung selbst direkt beteiligt ist, indem sie in zahlreichen Verfahren als Kläger auftritt. Wie können wir ihnen glauben, wenn sie von Amnestie sprechen und die Unterdrückung kritisieren und sich gleichzeitig daran beteiligen? Wie können wir ihnen glauben, wenn sie von Selbstbestimmung und Unabhängigkeit sprechen?
Der Kampf für die katalanische Republik ist ein Kampf gegen den Kapitalismus
Der Nationalfeiertag wurde vor dem Hintergrund einer sich verschärfenden wirtschaftlichen und sozialen Krise in Katalonien, im spanischen Staat und auf dem europäischen Kontinent gefeiert. Eine soziale Katastrophe, die ein weiterer Ausdruck der kapitalistischen Dekadenz ist und die die nationale Befreiungsbewegung in Katalonien genährt hat und weiterhin nährt.
Die Wut und das tiefe Unbehagen, die in der Bevölkerung spürbar sind, äußern sich nicht nur im Kampf um das Recht auf Selbstbestimmung. Feministische und LGTBQ-Demonstrationen, Proteste gegen Zwangsräumungen und vor allem zahlreiche zunehmend radikalisierte Arbeiterstreiks sind weitere Ausdrucksformen. Das war zum Beispiel der Fall beim Kampf der Lehrer gegen die Regierung und Minister Cambray.
All die Reden von ERC und Junts und all die Vorwürfe, die sie sich jetzt gegenseitig machen, sind nichts weiter als ein Vorwand, um von der zentralen Frage abzulenken: Wie können wir den Kampf gegen den spanischen Staat und das Regime von 78 fortsetzen? Wie können wir die katalanische Republik, für die wir 2017 und 2019 auf der Straße gekämpft haben, Wirklichkeit werden lassen? Warum haben wir 2017 dem Staat und der Reaktion den Arm verdreht und sind jetzt trotzdem in einer solche Position? Das sind die Fragen, die für viele auf dem Tisch liegen, und das erklärt die scharfe Kritik der ANC.
Dieser Nationalfeiertag hat wieder einmal das enorme Potenzial des Kampfes in Katalonien gezeigt. Aber auch, dass wir auf rein institutionellem Wege oder durch den Dialog mit dem 78er-Regime nicht weiterkommen. Jeder Appell an die Europäische Union, an die Verteidigung der Menschenrechte und der demokratischen Rechte durch Europa ist heute ein absoluter Hohn: Die EU hat sich völlig von unserem Kampf abgewendet und in der Praxis die autoritären Maßnahmen des spanischen Staates gerechtfertigt!
Die CUP steht vor einer historischen Chance: eine revolutionäre Alternative muss her!
Nach ihrer Niederlage am 11. September greifen die Führer von ERC und Junts auf denselben alten Trick zurück: Sie schieben sich gegenseitig den schwarzen Peter zu, rufen dazu auf, die „strategische Einheit“ der Unabhängigkeitsbewegung wiederherzustellen und versuchen mit allen Mitteln zu verhindern, dass die Unruhe weiterhin auf der Straße zum Ausdruck kommt und vor allem: dass der tiefgreifende Linksruck nicht einen organisierten politischen Ausdruck findet, der über Rhetorik und Gesten hinausgeht.
In diesem Zusammenhang bietet sich der separatistischen Linken, die behauptet, antikapitalistisch zu sein, eine historische Chance, ihre soziale Basis zu verbreitern und ERC und Junts die Führung der Bewegung streitig zu machen. Ja, all die Erfahrungen Tausender Jugendlicher und Aktivisten, die Schlussfolgerungen nach Jahren leerer Worte und Reden ziehen, gehen in diese Richtung.
Die CUP hat dem Druck widerstanden, der Regierung beizutreten und den katalanischen Haushalt zu unterstützen. Die Partei hat auch die von ERC-Junts-Comunes-PSC unterzeichnete Vereinbarung abgelehnt, die in dem Versuch, die 25%-Regelung für die katalanische Sprache zu umgehen, Tür und Tor für die Abschaffung des Sprachunterrichts öffnet. Sie hat eine konsequente Position zum imperialistischen Krieg in der Ukraine beibehalten, indem sie sowohl Putins Invasion als auch die imperialistische Intervention der USA und der NATO ablehnt und die ultrareaktionäre Marionettenregierung von Selenskyj anprangert.
Sowohl bei Demonstrationen wie dem Nationalfeiertag von 2021 und in diesem Jahr als auch bei vielen anderen Mobilisierungen und sozialen Kämpfen bringt die CUP einen bedeutenden Teil der fortschrittlichen Studenten- und Arbeiterjugend zusammen, die eine klar antikapitalistische Alternative suchen, um für eine Republik des Volkes und nicht der kapitalistischen Oligarchie zu kämpfen, ohne soziale Kürzungen oder Unterdrückung jeglicher Art, unter einem wirklich sozialistischen Programm. Dazu ist es notwendig, ein solches Programm aufzustellen, das die Enteignung der Kapitalisten vorschlägt, angefangen bei der parasitären katalanischen Bourgeoisie, genauso wie die Verstaatlichung der Elektrizitätsgesellschaften und der Banken.
Wenn der Kampf für die Republik mit diesem Programm identifiziert wird, dann würden sich zweifellos viele noch zögerliche katalanische Arbeiter unserem Kampf anschließen und Millionen von Arbeitern und Jugendlichen im Rest des Staates würden klar erkennen, dass der Kampf für die Republik ein Kampf zur Veränderung auch ihrer Lebensbedingungen ist, ein Kampf, um dem Kapitalismus ein Ende zu setzen. Auf diese Weise können die notwendigen Kräfte gesammelt werden, um den Kampf zum Sieg zu führen.
Die Bedingungen für den Triumph einer revolutionären, internationalistischen und kommunistischen Alternative sind vorhanden, aber wir brauchen eine entschlossene Führung, die den Worten Taten folgen lässt und Ungehorsam in Macht umwandelt. Das ist die Aufgabe, die wir uns bei Esquerra Revolucionària stellen!