Der erdrutschartige Sieg der extremrechten Republikanischen Partei (PR) bei den Wahlen zum Verfassungsrat, dem für die Ausarbeitung der neuen chilenischen Verfassung zuständigen Gremium, ist ein harter Schlag für Millionen linker Aktivisten und Aktivistinnen in Chile und auf der ganzen Welt. Nach einem revolutionären Aufstand im Oktober 2019, der das kapitalistische Regime in die Knie gezwungen, eine Welle der Sympathie und Solidarität in Lateinamerika und dem Rest des Kontinents mit dem aufständischen Volk und seinem Widerstand gegen die blutige Unterdrückung der Piñera-Regierung ausgelöst und zu durchschlagenden Wahlsiegen der Organisationen der reformistischen Linken geführt hat, stehen wir nun vor einem historischen Sieg des Pinochetismus (Augusto Pinochet war der ultrarechte Diktator, der die linke Regierung Allendes 1973 mit Hilfe der CIA stürzte und Chile bis 1990 blutig regierte, Anm. d. Ü.) und der Reaktion.

In diesen kritischen Momenten ist es unerlässlich, der Realität ins Gesicht zu sehen, um die Faktoren zu verstehen, die zu dieser Katastrophe geführt haben; angefangen bei den schweren Fehlern, die von der regierenden Linken und auch von der Linken, die behauptet, antikapitalistisch zu sein, begangen wurden. Sie haben die Konterrevolution und die Demoralisierung breiter Teile der Arbeiterklasse und der chilenischen Jugend ermöglicht.

Welche Erklärung kann der Marxismus geben?

Die Massen, die Arbeiterklasse und die Jugend Chiles, haben mehr als deutlich gemacht, dass sie bereit sind, den ganzen Weg zu gehen und den Himmel im Sturm zu erobern, aber ihre Führer haben, wie es in Europa bspw. bei Podemos und Syriza der Fall war, aufgegeben. Diese Weigerung, die Gesellschaft wirklich umzugestalten und konsequent für den Sozialismus zu kämpfen, ist es, die der Konterrevolution letztlich Tür und Tor geöffnet hat.

Der Sieg der PR von José Antonio Kast, einem Faschisten mit Verbindungen zur spanischen ultrarechten Partei Vox, zu Donald Trump und Jair Bolsonaro, der das Erbe Pinochets und einen ganzen Katalog von rassistischen, chauvinistischen und homophoben Ideen verteidigt und eine harte Hand gegen jeden sozialen Protest verspricht, ist eine Bedrohung ersten Ranges für die Arbeiterklasse. Zwei Jahre nach dem historischen Sieg des linken Kandidaten Gabriel Boric ist die Konterrevolution in vollem Gange und beherrscht die Szene.

Mit 35,41% der gültigen Stimmen (3.470.855) und 23 von 50 Sitzen hat Kast einen überwältigenden Sieg errungen. Die rechtsgerichtete Koalition der Piñeristas, „Chile Seguro“, erhielt 21,06 % der Stimmen (2.064.454 Stimmen) und 11 Sitze. Zusammen mit anderen rechten Kräften wie der Volkspartei bescheren diese Zahlen der Konterrevolution ein historisches Ergebnis: 6.072.503 Stimmen, 61,95% und eine absolute Mehrheit, die es ihr ermöglichen wird, eine Verfassung auszuarbeiten, die noch reaktionärer ist als die derzeitige.

Die Parteien, die Borics Regierung unterstützen – Frente Amplio (FA), die Kommunistische Partei (PC) und die Sozialistische Partei (PS), die in der Koalition „Einheit für Chile“ zusammengeschlossen sind –, haben das schlechteste Ergebnis seit dem Ende der Pinochet-Diktatur erzielt: nur 2.802.783 Stimmen, knapp 28,5 %. In den 14 Monaten Regierungszeit von Boric haben sie 1.817.888 Wähler verloren: 39,34 % der Unterstützung von 2021! Eine klare Verurteilung ihrer Politik, die weit mehr ist als nur die traditionellen Hetzkampagnen der kapitalistischen Medien gegen die linke Regierung.

Die Unzufriedenheit mit der Regierung wurde auch mit einer Rekordzahl von ungültigen und leeren Stimmen zum Ausdruck gebracht: nicht weniger als 2.689.570 (21,53 %!), konzentriert in der Arbeiterklasse und den ärmsten Vierteln. Im Gegensatz dazu machen die ungültigen und leeren Stimmen in den Vierteln der oberen Mittelschicht, in denen die Rechten und die Extremrechten mehr als 75 % der Stimmen erhalten haben, nur 5 % aus. Die Daten verdeutlichen das Ausmaß der Demobilisierung und der Kritik an der Regierung Boric, die die enormen Hoffnungen, die in sie gesetzt wurden, zunichte gemacht hat.

In La Pintana, einer der am stärksten von der Krise betroffenen Regionen des Großraums Santiago de Chile, wo Boric bei den Präsidentschaftswahlen noch die große Unterstützung erhalten hat (72,93 %), haben nun die ungültigen Stimmen die Mehrheit ausgemacht (29.482). In dieser Nachbarschaft haben die kommunistische und sozialistische Partei und die Frente Amplio 45% ihrer Stimmen verloren (von 48.968 auf 28.129). Sie konnten Kast, der seine Unterstützung um 50% erhöhen konnte, um nur 199 Stimmen schlagen. In der Bergbauregion Antofagasta, einer historischen Hochburg von Kommunisten und Sozialisten, gab es 101.496 ungültige oder Leerstimmen und nur 76.431 für die linken Parteien, was einen Verlust von 51.573 Stimmen bedeutet, während die extremrechte Republikanische Partei mit 105.847 Stimmen gewonnen hat.

Die Revolution von 2019 und die reaktionäre Rolle der Losung der verfassungsgebenden Versammlung

Der chilenische Aufstand vom Oktober 2019 war einer der massivsten, stärksten und politisch fortschrittlichsten der letzten Jahrzehnte. Die Bourgeoisie versuchte zunächst, ihn durch brutale Unterdrückung niederzuschlagen. Piñera griff auf die Armee und die Carabineros zurück, was zu Dutzenden von Toten und Hunderten von Verwundeten führte. Aber die Massen besiegten die Repression durch ihre direkte Aktion auf der Straße und entwickelten Keime der Arbeiter- und Volksmacht: Versammlungen, offene Räte, Selbstverteidigungsorgane...

Wie in jedem wirklich revolutionären Prozess in der Geschichte zwang die Kraft der Massen in Aktion und ihre Fähigkeit, das chilenische kapitalistische Regime in die Schranken zu weisen, die Bourgeoisie und den US-Imperialismus, nach anderen Wegen zu suchen, um die revolutionäre Bewegung zu neutralisieren und sie so weit wie möglich von sozialistischen Forderungen zu entfernen. Die Parole der „Verfassungsgebenden Versammlung“ und der Pakt mit der reformistischen Linken spielten dabei eine wichtige Rolle.

Auf dem Höhepunkt des revolutionären Prozesses wurden die Piñera-Rechte und die Ultrarechte in die Enge getrieben. Die Mittelschichten wandten sich nach links, mitgerissen von der Massenbewegung und ihrer kämpferischen Energie. Aus Angst, alles zu verlieren, verließ sich die herrschende Klasse auf die Führer der reformistischen Linken, der PC, PS und FA, um den Sturz Piñeras zu verhindern, indem sie einen großen politischen Pakt vorschlugen, der zur Demobilisierung der Massen auf der Straße führen und den revolutionären Prozess auf das Terrain des Parlamentarismus lenken sollte.

Die Unterzeichnung des „Abkommens für den sozialen Frieden und den verfassungsgebenden Prozess“ durch Gabriel Boric und die Frente Amplio und seine praktische Annahme durch die Führer der Kommunistischen Partei ermöglichte es der Bourgeoisie, ihr Ziel zu erreichen: ein Waffenstillstand, damit die Massenbewegung nicht auf einen offenen Bruch mit dem Kapitalismus zusteuert, und die gesamte parlamentarische Maschinerie in Gang setzen, mit der die kämpferische Vorhut der Bewegung verwässert und die Bevölkerung in Wahlversprechen und leeren Reden ertränkt werden sollte. Die Macht blieb derweil fest in den Händen der Oligarchie und des pinochetistischen Staatsapparats. Die Zeit würde dazu beitragen, so das Kalkül der Kapitalisten, die Dinge zu beruhigen und die Frustration und Demoralisierung zu erzeugen die notwendig sind, damit die Reaktion ihre starke und sichere Position zurückgewinnen kann.

Selbst diejenigen linken Organisationen, die sich selbst als antikapitalistisch bezeichnen, tappten in diese Falle, indem sie die ohnmächtige Parole von der „freien und souveränen“ verfassungsgebenden Versammlung ausgaben. In der Praxis bedeutete das, dass der ernsthafte Kampf um die Macht mit einem revolutionären sozialistischen Programm aufgegeben wurde. Indem sie der Verfassungsgebenden Versammlung das Etikett „frei und souverän“ anhefteten, gaben sie dem Gerede von Boric und den PC-Führern einen linken Anstrich, während es nicht das Geringste an dem bürgerlichen Charakter der Versammlung änderte.

Trotz alledem unterstützten die Massen die Linke bei jeder Wahl, verschafften ihr eine absolute Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung und wählten Boric zum Präsidenten von Chile. Doch nach zwei Jahren steriler Debatten über die neue Verfassung hat sich nichts geändert. Die Reichen sind noch reicher, die Armen noch ärmer, der Großgrundbesitz der Bankiers und Großgrundbesitzer bleibt unangetastet, die nationalen und imperialistischen Monopole behalten ihre ganze Macht und ihren Einfluss, der Repressionsapparat bleibt ungeschwächt und ermutigt, Bildung, Gesundheit und Renten bleiben privatisiert, es gibt keinen öffentlichen Wohnungsbau, die Löhne sinken, das Volk der Mapuche wird weiterhin unterdrückt und kriminalisiert, und die fortschrittlichsten sozialen Forderungen wurden von Boric konsequent verraten.

Der chilenische Präsident hat nichts anderes getan, als dem Druck der Bourgeoisie nachzugeben und sich die Rhetorik von Kast zu eigen zu machen, wenn es bspw. um Aspekte wie die „Unsicherheit der Bürger“ oder die Kriminalisierung von Einwanderern und Mapuche-Völkern geht. Boric und seine Verbündeten in der Regierung haben sogar das von der Rechten vorgelegte Gesetz unterstützt, das die Befugnisse und die Straffreiheit der mit Pinochet-Faschisten durchsetzten Carabineros stärkt, um angeblich gegen Verbrechen und Terrorismus vorzugehen. Außerdem haben sie die Repression gegen Einwanderer verschärft und die Grenze sowie die Regionen Araucania und Bio-Bio, in denen sich die meisten der den Mapuche entrissenen Gebiete befinden, militarisiert und mehrere ihrer Führer inhaftiert.

Diese Politik hat der extremen Rechten Flügel verliehen. Durch die Mobilisierung des Kleinbürgertums, das von der Ausbeutung der Einwanderer und der Spekulation mit Mapuche-Ländern profitiert, und durch das Schüren rassistischer und fremdenfeindlicher Vorurteile erhält Kast in den Grenzregionen Araucania und Bio-Bio, wo er 43,33% erreicht, den höchsten Prozentsatz an Unterstützung!

Gegen Faschismus und Kapitalismus brauchen wir eine revolutionäre und sozialistische Alternative!

Die chilenische Bourgeoisie hat die Kraft der Revolution gesehen und ist, wie sie bereits 1973 mit Pinochet gezeigt hat, zu allem bereit. Für Kast und die Teile der herrschenden Klasse, die ihn unterstützen, ist dieser Sieg erst der Anfang. Ihr Ziel ist es, die Regierung ganz zu erobern, um eine Offensive zu starten, die das Streben nach Veränderung, das Millionen von Menschen in dem revolutionären Aufstand vom Oktober 2019 mobilisiert hat, endgültig zerschlagen wird.

Zu „Dialog und Toleranz“ aufzurufen, wie es Boric und die PS jetzt tun, bedeutet, diesen Faschisten noch zu beschönigen! Eben das und die Fortführung der prokapitalistischen Politik der Regierung ebnen ihm nur den Weg. Aber die Kapitulation von Boric und der PS hätte ohne die enge Zusammenarbeit mit den Führern der Kommunistischen Partei keine so demoralisierende Wirkung. Daniel Jadue, der Vorsitzende der PC, schreibt kritische Tweets gegen die rechten Maßnahmen der Regierung, während er und seine Partei sie in Wahrheit vollumfänglich unterstützen, indem sie sich mit Personen wie Camila Vallejo als Ministerin und vielen anderen in Schlüsselpositionen beteiligen. Wasser predigen und Wein trinken!

In Chile ist wertvolle Zeit verloren gegangen und vor allem sind die Fehler eben jener politischen Strategie gnadenlose aufgedeckt worden, die einen „freundlichen“ Kapitalismus mit einem menschlichen, sozialen und fortschrittlichen Antlitz anstrebt. Das ist unmöglich!

Es ist notwendig, alle Konsequenzen aus den Ereignissen zu ziehen. Die Losung der Verfassungsgebenden Versammlung, egal als wie „frei und souverän“ man sie betitelt, an die sich die Führer der Linken, von der PC bis zu den verschiedenen marxistischen oder trotzkistischen Gruppen, weiterhin klammern, ist eine bloße Wiederholung der Etappentheorie, die die Sozialdemokratie und die Stalinisten immer verteidigt haben. Sie beteuern, dass die objektive Situation nicht reif sei, das sozialistische Revolution und Machtergreifung noch nicht auf der Tagesordnung stehen würden. Wie damals schlagen sie auch heute vor: zuerst die „freie und souveräne“ verfassungsgebende Versammlung, und dann, in einer unbestimmten Zukunft und wenn die Bedingungen gegeben sind, der Sozialismus. Das ist ein tragischer Irrtum mit katastrophalen Folgen.

Die Erfahrung zeigt auf dramatische Weise den völlig leeren Charakter dieser Parole und ihre lähmende und reaktionäre Wirkung. Weit davon entfernt, als Rammbock für das Voranschreiten des revolutionären und sozialistischen Bewusstseins zu fungieren, lähmt diese reformistische und etapistische Parole das unabhängige Handeln der Massen. Der Aufruf, für ein bisschen fortschrittliche Demokratie oder ein bisschen soziale Gerechtigkeit zu mobilisieren, während die wirtschaftliche und politische Macht in den Händen der Kapitalisten bleibt, ist reaktionärer Utopismus.

Die Massen brauchen jetzt echte und greifbare Veränderungen, die ihre Lebensbedingungen radikal verändern werden. Veränderungen, die wiederum einen Sprung in ihrem Bewusstsein bewirken würden. Und das ist nur möglich, wenn man die enormen Ressourcen und den Reichtum, den die Gesellschaft schafft, der aber in den Händen einer Minderheit von Banken, multinationalen Unternehmen und großen Vermögen liegt, in den Dienst der Arbeiterklasse und der Jugend stellt. Hätte Boric die Rentenkassen verstaatlicht und eine angemessene Rente ab dem 60. Lebensjahr garantiert, hätte er ein völlig kostenloses und öffentliches Bildungs- und Gesundheitswesen eingeführt und die Mittel bereitgestellt, um dieses qualitativ hochwertig zu gestalten, hätte er die Banken und das Großkapital verstaatlicht, oder hätte er stabile Arbeitsplätze und angemessene Löhne garantiert, natürlich durch die energischste Mobilisierung auf der Straße… wäre die Reaktion nicht da, wo sie heute ist! Das Problem sind nicht die Massen und ihr Bewusstsein, sondern die Feigheit und die völlige Demoralisierung ihrer Führer.

Wir brauchen eine revolutionäre Linke, die das Programm und die Methoden des echten revolutionären Marxismus aufgreift. Nur so können wir den Faschismus stoppen und die sozialistische Revolution vorantreiben. Dies ist die große Lehre aus den chilenischen Ereignissen.

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