Eine kritische Besprechung von Wagenknechts neuem Buch
Sahra Wagenknechts neues Buch erscheint offiziell kurz nachdem in Nordrhein-Westfalen die neue Landesliste der LINKEN zur Bundestagswahl aufgestellt wurde. Wagenknechts Strömung konnte sich auf dem Parteitag in NRW durchsetzen, hatte aber in der Gesamtpartei in den vergangenen Jahren große Niederlagen zu verzeichnen. Uns scheint es wahrscheinlich, dass Wagenknechts „Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt“ einen organisatorischen Bruch mit der LINKEN vorbereiten soll.
Wagenknecht wirft in ihrem Buch die entscheidende Frage der Entwicklung der Linkspartei auf – die nach dem Klassencharakter ihrer Politik. Aber sie schlägt kein politisches Programm für eine kämpferische Klassenpolitik vor – überhaupt spielt die aktive Arbeiterklasse in ihren Ausführungen kaum eine Rolle (erwähnt sie die Gewerkschaften, stützt sie sich meist auf von sozialdemokratischen Gewerkschaftsführern vertretene reaktionäre Vorstellungen, die sie als große soziale Errungenschaften verkauft). Wagenknechts Programm ist nichts weniger als ein Programm für eine sozial gesinnte und national bornierte Unternehmerschaft. Eine Wagenknecht-Partei wäre, selbst wenn sie an ihrer Basis an einzelnen Orten die Hoffnungen mancher Arbeiter auf sich ziehen könnte, eine programmatische Rechtsabspaltung der Linkspartei.
DIE LINKE und die Arbeiterklasse
Wagenknecht stützt sich in ihrem Buch unter anderem auf Thomas Pikettys „Kapital und Ideologie“ und stellt dar, dass Parteien wie DIE LINKE anteilig mehr und mehr von Wählern der Mittelschicht, aber immer weniger von Arbeitern gewählt werden, und dass sich auch das öffentliche Auftreten der Partei entsprechend verändert hat. Sie schreibt:
„Je höher jemand in der Einkommens- und Bildungshierarche stand, desto geringer war in den fünfziger bis siebziger Jahren die Wahrscheinlichkeit, dass er sich als Linker sah [...]. Schon in den achtziger Jahren begann sich das zu verändern [...]. Heute hat sich das Bildungsgefälle zwischen den Wählern der linken und der Mitte-rechts-Parteien überall umgekehrt. Auch das Einkommensgefälle zwischen der Wählerschaft beider Lager ist sehr viel kleiner geworden.“1
Was die Argumente von Sahra Wagenknecht, Ralf Krämer und anderen zur Zusammensetzung und Wählerschaft der LINKEN betrifft, reicht es nicht – wie Teile der Bewegungslinken oder Bernd Riexinger das tun – ihren wahren Kern zu leugnen und sie beiseite zu schieben mit dem Hinweis, man habe ja hier oder dort eine Gruppe von Krankenhausbeschäftigten gewonnen. Sieht man sich die Fakten an, wird klar, dass die AfD nach ihrer Gründung vor allem eine Partei der abstiegsbedrohten Mittelschicht und Selbstständigen war,2 dass sie aber in einigen Bundesländern über die Jahre durchaus in relevantem Ausmaß Arbeiterstimmen auf sich ziehen konnte: in Baden-Württemberg haben laut offiziellen Statistiken bei der letzten Landtagswahl 26 Prozent der Arbeiter AfD gewählt3 in Sachsen und Brandenburg waren es über 40 Prozent.4
Das liegt nicht daran, dass unter Arbeiterinnen und Arbeitern ein „rechter Zeitgeist“ herrschen würde, sondern hat viel mit dem Versagen der Partei DIE LINKE zu tun. Denn dass die LINKE nicht die Stimme einer kämpferisch gesinnten Arbeiterschaft ist, wurde gerade auch im vergangenen Jahr deutlich. Während eine tiefe Wirtschaftskrise zehntausende Stellenstreichungen und 6 Millionen Anträge auf Kurzarbeitergeld allein im April forderte, und die Regierung mit Geldgeschenken in Milliardenhöhe an Banken und Konzernen reagierte; als in der Coronapandemie eine Politik harter Restriktionen im Privatleben verbunden mit liberalen Richtlinien für Unternehmen verfolgt wurde, beschränkte DIE LINKE ihre Opposition zum vergangenen März beschlossenen Rettungspaket vorwiegend auf die Bitte, kleine Selbstständige und Kreative bei der Verteilung der Rettungsgelder zu berücksichtigen und positionierte sich noch im September 2020 gegen einen Lockdown der Wirtschaft.5 Damit vertrat DIE LINKE in erster Linie die Positionen der Mittelschicht und Selbstständigen, nicht aber ein kämpferisches Programm der Arbeiterklasse.
Auch ihr politisches Auftreten ist das einer linken Mittelschichtspartei; eine Rolle, die die Grünen derzeit erfolgreicher spielen können.6 Gerade in NRW verlor DIE LINKE bei der Kommunalwahl 2020 verglichen mit 2014 5,9% ihrer Stimmen an die Grünen.7 Dabei ist das Problem nicht, wie manche Vertreter der LINKEN behaupten, dass die Partei kein ausreichend ökologisches Profil besäße, sondern dass sie es nicht schafft, ein kämpferisches Programm der Arbeiterklasse aufzustellen und mit ihren sozialen Schwerpunkten Dominanz zu erringen. Die Folge ist, dass politische Fragen wie die der Umweltpolitik zum Nachteil der Arbeiterschaft ausgenutzt werden – Wagenknecht beschreibt das Resultat:
„Was das Ansehen der Klimaproteste nachhaltig beschädigt haben dürfte, war sicherlich die demonstrative Gleichgültigkeit ihrer Wortführer gegenüber den Anliegen von Menschen, für die die Angst vor dem Verlust ihrer sozialen Existenz die Angst vor der Veränderung des Weltklimas schon deshalb überlagert, weil sie [...] mit dieser Angst täglich leben. Menschen, die auf die These, dass der kleinliche Kampf um Arbeitsplätze und einen gewissen Lebensstandard zurückstehen muss, wenn es um die Zukunft des Planeten geht, weil es sich um ihre Arbeitsplätze und ihren Lebensstandard handelt.“8
Erstaunlich ruhig bleibt Wagenknecht hingegen, was die Propagandaoffensive der IG Metall-Spitzen an der Seite der Arbeitgeber hinsichtlich des Stellenabbaus im Zuge einer vermeintlichen „ökologischen Transformation“ betrifft, die tatsächlich ganz direkt Anteil an Arbeitsplatzabbau hat.9
Identitätspolitik
Aufgrund der Konfliktlinien wie der zwischen der sozialen Frage und dem ökologischen Programm der »Fridays for Future«-Führerinnen, argumentiert Wagenknecht, dass heute nicht mehr der Neoliberalismus sondern der Linksliberalismus die Klassengesellschaft ideologisch dominiere und schreibt:
„Aus der Lebenswelt der akademischen Mittelschicht sind zwei große Erzählungen hervorgegangen. In den achtziger und neunziger Jahren bestimmte der Neoliberalismus die öffentliche Debatte. Diese Erzählung spiegelte allerdings in erster Linie die Interessen der [...] Akademiker wider. [...] Die zweite große Erzählung des akademischen Großstadtmilieus ist der Linksliberalismus. Sie hat den alten Neoliberalismus [...] als öffentlich dominierende Erzählung abgelöst.“10
Damit rückt Wagenknecht selbst Kulturfragen in die erste Reihe vor ökonomische Auseinandersetzungen. Aber der Neoliberalismus war keine „Erzählung“ eines „akademischen Großstadtmilieus“, sondern das ökonomische Programm der herrschenden Kapitalistenklasse zu Zeiten fallender Profitraten in imperialistischen Kernländern, das Deindustrialisierung, die Niederschlagung der Gewerkschaftsbewegung, Lohndruck und die Zerschlagung der Sozialsysteme beinhaltete.
Demgegenüber ist die von den akademischen Eliten der US-amerikanischen Universitäten stammende Identitätspolitik ein Mittel im Kampf verschiedener Sektoren bessergestellter Schichten um die Privilegien der Klassengesellschaft. In Wagenknechts Worten „geht es im Rummel um Diversity und Quoten immer nur darum, bereits privilegierten Frauen und Minderheiten bessere Chancen im Kampf um gut dotierte Stellen zu schaffen“.11 Die Identitätspolitik konzentriert sich dabei auf immer spezifischere individuelle Merkmale statt sozioökonomische Strukturen, mit dem Ziel der Unterscheidung, des Erstellens einer Rangordnung und der Abgrenzung von der breiteren Bevölkerung statt der politischen Gleichheit. So ist auch ihre Äußerung zu den „skurrilen Minderheiten“ gemeint.12
Auch geht die identitätspolitische Herangehensweise – und auch das kritisiert Wagenknecht zu Recht – häufig mit einer verlogenen bürgerlichen Symbolpolitik einher. Wenn beispielsweise 1985 auf Aufstände in Birmingham, das von hoher Arbeitslosigkeit und Armut geprägt ist, mit Geldern an religiös und ethnisch getrennte Schirmorganisationen reagiert wird statt mit tatsächlich hilfreichen sozialstaatlichen Maßnahmen;13 oder wenn die New York Times nach den Massakern in El Paso, Texas und Dayton, Ohio im August 2019 erklärt, der Rassismus sei ein angeborener Teil der „weißen Identität“ dann dient das dem Zweck, die Arbeiterklasse an ethnischen und religiösen Merkmalen zu spalten, und nicht, rassistischer Unterdrückung und sozialen Schieflagen den Boden zu entziehen.
Sachliche und marxistische Kritik an Identitätspolitik ist notwendig, sollte aber bei den Fakten bleiben. Und dass der Linksliberalismus den Neoliberalismus als die dominierende Herrschaftsstrategie der Kapitalistenklasse abgelöst habe, und man sich deshalb mit deutschtümeligen Kleinunternehmern gegen ihn zusammenschließen sollte, gehört zu den fakenews der politischen Rechten, die auch Milliardäre wie Donald Trump – der sicherlich nicht den „linksliberalen Eliten“ angehört – zu den neuen Arbeiterführern erklären.
Konservatismus
„Wo das Neue eine Verschlechterung ist, kann die Vergangenheit mehr Zukunft enthalten als die Gegenwart“14
Um dem Linksliberalismus etwas entgegenzusetzen, führt Wagenknecht in ihrem Buch lang und breit ihr Programm eines „linken Konservatismus“ aus. Es finden sich Absätze in ihrem Buch wie:
„Die Anerkennung der wichtigen Rolle, die Traditionen und kulturelle Prägungen für menschliches Denken und Verhalten spielen [...] gehören zum zentralen ideengeschichtlichen Erbe des Konservatismus. Der geistige Vater dieser Strömung, der irisch-britische Philosoph Edmund Burke, hat immer wieder auf die in gemeinsamen Bräuchen und Überlieferungen enthaltene Weisheit hingewiesen, ohne die Gesellschaften zerfallen würden.“15
Die Ausführungen der politischen Ideen des Konservatismus übersteigen um weite Längen die beiden kläglichen Verweise auf Marx und Engels, die sich im Buch finden (im Übrigen tun das selbst die Ausführungen zu Adam Smith). Gegen Ende des Kapitels findet sich dann die klare Bekenntnis: „wertkonservativ und zugleich links zu sein [sei] kein Widerspruch“, und die sozialdemokratischen Parteien seien historisch oft genau das gewesen – „linkskonservativ“.16
Dabei waren diejenigen Parteien, auf die sich die frühere Kommunistin Sahra Wagenknecht selbst vor unzähligen Jahren positiv bezog – revolutionäre Parteien wie die russische bolschewistische Partei oder die deutsche KPD unter Luxemburg und Liebknecht – alles andere als „wertkonservativ“. Sie erkannten, dass sich in den „Traditionen“ der Klassengesellschaft häufig die tradierten Vorstellungen der herrschenden Klasse widerfanden, und rebellierten gegen Ideologien wie Religion und Nationalismus, die die Arbeiterklasse unter einem reaktionären Banner mit ihren Herrschern befrieden sollten – auch wenn das womöglich den religiösen Befindlichkeiten von Teilen der Landbevölkerung vor den Kopf stieß. Und wo wären Wagenknechts laizistische Vorstellungen (die sie jedoch nur gegen den Islam ins Feld führt, kaum aber gegen das Christentum) heute, hätte es nicht die radikale Nationalisierung der Kirchengüter in der Französischen Revolution gegeben? Kein Wunder, dass der von Wagenknecht zitierte Vordenker des Konservatismus auch ein glühender Gegner der Französischen Revolution war!
Nationalismus
Doch Sahra Wagenknecht hat der sozialen Revolution längst abgeschworen – das wird nicht erst jetzt deutlich. Aber gerade weil sie sich nicht auf die kämpfende Arbeiterklasse stützt, sondern lediglich die bürgerliche Demokratie reformieren möchte, ist sie auch nicht gezwungen eine Ideologie anzunehmen, die der Spaltung der Arbeiterklasse entgegenwirkt.
Dementsprechend argumentiert sie rundheraus für „Nationalstaat und Wir-Gefühl“, einer „totgesagten Idee“, die „Zukunft hat“. Dabei ist ihre Kritik an bürgerlichen, undemokratischen Institutionen wie der Europäischen Union, durch die seit Jahren das brutale Diktat des deutschen und französischen Imperialismus durchgesetzt und unter anderem durch das „Europäische Semester“ Kürzungspolitik in allen EU-Ländern betrieben wird, durchaus berechtigt. Ihre Antwort auf die internationale Ausbeutung durch den Imperialismus ist hingegen tief reaktionär: Ein Plädoyer für ein „Zurück“ zur nationalen Interessens- und Wertegemeinschaft und ein Lobgesang auf den Wirtschaftsnationalismus.
Wagenknecht erklärt, wie Deutschland im späten 19. Jahrhundert „seine industrielle Rückständigkeit [...] hinter dem Schutz hoher Zollmauern“ überwand und „[n]icht Freihandel, sondern Protektionismus“ Deutschland und die USA „reich gemacht“ hat.17
Doch für moderne imperialistische Staaten, deren Armeen heute den ganzen Erdball beherrschen und die über ein globales Netz aus Rohstofflieferanten und international organisierter Arbeitsteilung verfügen, führt kein Weg zurück in die nationale Abschottung18 – Autarkie und wirtschaftlicher Nationalismus stellen einen reaktionären Traum dar, wie sich in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts gezeigt hat, und hinter ihm verbirgt sich der aggressivste aller Imperialismen. Denn gerade zu Zeiten der kapitalistischen Krise gibt es kein gemeinsames Interesse der Arbeiterklasse mit ihrer Bourgeoisie im Handelskrieg.
Migration
Mit dem Vorschlag eines national-bürgerlichen Wirtschaftsprogramms legt Wagenknecht ein Programm zur Befriedung des Klassenwiderspruchs zwischen dem deutschen Arbeiter und dem deutschen Mittelstandsunternehmer vor – nicht aber zwischen ihm und dem Zuwanderer. Denn natürlich stimmt es, dass die imperialistische Ausbeutung und Kriegsführung zu Flucht und Migration über den ganzen Erdball hinweg führen, und auch der „brain drain“19 ist ein Aspekt davon. Und natürlich ist der Zwang zur Flucht auch kein „positiver Wert an sich“, sondern ein grausames Verbrechen der imperialistischen Weltmächte an den ärmsten Bevölkerungsgruppen der Welt.
Doch aus Sicht der Arbeiterklasse muss die Frage so gestellt werden, dass klar wird, welches Programm uns einen Handlungsspielraum zum gemeinsamen Kampf eröffnet. Kapitalismus geht immer mit Kriegen einher – ebenso mit Ausbeutung und Armut. Nur der Kampf der Arbeiterklasse für den Sozialismus kann diesem Elend ein Ende bereiten – und den können wir nicht führen, wenn wir uns gegeneinander aufhetzen lassen.
Wagenknecht, die sich in Feldherrenmanier lediglich die Frage stellt, wie auf bürgerlichen Ministerpöstchen bessere Migrations- und Entwicklungshilfepolitik geleistet werden könnte, gibt Malthus20 Recht und erklärt, dass Flüchtlinge und Migration der Grund für niedrige Löhne, und dass Flucht und Migration ja ohnehin nicht gut für die Herkunftsländer seien. Weiter schreibt sie:
„Seinerzeit haben die Gewerkschaften für Regelungen gekämpft, die es Unternehmen erschweren, Zuwanderer zu beschäftigen. Dass die Migration aus Osteuropa in der Weimarer Republik weitgehend gestoppt wurde, war vor allem Ergebnis ihres Drucks und der Unterstützung der Sozialdemokratie für ihr Anliegen. [...]
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Gewerkschaften überall einflussreich waren und Ausbeutung und Renditemacherei politisch in Grenzen gehalten wurden, hatten Zuwanderer daher in der Regel kaum Zugang zum normalen Arbeitsmarkt der Industrieländer. Vielfach arbeiteten sie zwar im gleichen Betrieb, aber rechtlich unter klar abgegrenzten Bedingungen. Je organisierter die Gewerkschaften in bestimmten Branchen waren, umso strikter fielen die Einschränkungen aus. In manchen Bereichen gelang es ihnen sogar, die Beschäftigung von Zuwanderern komplett zu verhindern.“21
Will man aber verhindern, dass Zuwanderung die Belegschaften in ihrer Verhandlungsposition schwächt, ist der internationalistische gemeinsame Kampf der einzige Weg, der der Macht der Kapitalisten im Betrieb etwas entgegensetzen kann. Als Lenin 1915 mit zuwanderungsfeindlichen Positionen konfrontiert war, schrieb er:
„In unserem Kampf für den wahren Internationalismus gegen „Jingo-Sozialismus“ verweisen wir in unserer Presse stets auf die opportunistischen Führer der SP in Amerika, die dafür eintreten, dass die Einwanderung chinesischer und japanischer Arbeiter beschränkt wird (besonders nach dem Stuttgarter Kongress von 1907 und entgegen seiner Beschlüsse). Wir denken, dass niemand Internationalist sein und zugleich für derartige Beschränkungen eintreten kann. Und wir behaupten, dass Sozialisten in Amerika, besonders englische Sozialisten, die der herrschenden, also einer unterdrückenden Nation angehören, wenn sie sich nicht gegen jedwede Einwanderungsbeschränkung und gegen die Besitzergreifung von Kolonien (Hawaii-Inseln) wenden, wenn sie nicht für die volle Unabhängigkeit der letzteren eintreten – dass solche Sozialisten in Wirklichkeit „Jingos“ sind.“22
Früher ließ Wagenknecht sich mit Porträts von Lenin ablichten – vielleicht hätte sie seine Werke vor Verfassen dieses Buchs studieren sollen, und nicht die von Adam Smith und Edmund Burke.
Bündnis mit dem deutschen Unternehmer
„Das zentrale Ziel kapitalistischen Wirtschaftens besteht darin, aus Geld mehr Geld zu machen. Es geht also darum, möglichst billig zu produzieren und möglichst teuer zu verkaufen. Das können Unternehmen durchaus auf Wegen erreichen, die mit dem Allgemeinwohl und auch mit den Interessen ihrer Arbeiter nicht kollidieren.“23
Wagenknecht stützt sich nicht auf die Kämpfe der Arbeiterklasse, und muss sich daher die Frage ihrer Einheit nicht stellen. Allgemein formuliert sie die sozialen Kräfte, die sie in ihrem politischen Programm benennt, sehr schwammig. Kaum je spricht sie von Klassen, immer von den „Eliten“, der „Oligarchie“24 gegenüber den „Unterprivilegierten“25 (die sich ihrer Meinung nach auf den Coronaleugner-Demos finden), von der „akademischen Mittelschicht“ und den „Unternehmern“, die aber etwas anderes seien als die „Kapitalisten“.26 Nicht die Marktwirtschaft ist laut Wagenknecht das Problem, sondern „Geierfonds“ wie Cevian bei ThyssenKrupp27 und die „Risikokapitalgeber“.28 Demgegenüber erklärt sie die deutschen „mittelständischen Weltmarktführer“ zur „Säule unserer Volkswirtschaft“.29
Der Kapitalismus, so Wagenknecht, ist also gar kein Problem – solange er reglementiert wird, und der Wettbewerb funktioniert.30 Dass eben die Gesetze des Kapitalismus es derzeit erlauben, dass das Patent lebensrettender Impfstoffe in privaten Händen bleibt um Profite zu mehren, erwähnt sie nicht. Neben dem Wettbewerb, so Wagenknecht, braucht es auf noch eine „hohe Akzeptanz des Leistungsgedankens“ für eine akzeptierende Marktwirtschaft – „Motivierend und gerecht: Für eine echte Leistungsgesellschaft“, so der Titel des Kapitelabschnitts.31
All das klingt mehr wie eine Vermengung von Wahlkampfsprüchen der FDP mit einer sozialen Selbstverpflichtung deutscher Unternehmer, statt einer Ansage zum Klassenkampf. Kein Wunder, dass das bekannteste Gesicht der „Unternehmer in der LINKEN“ – Dieter Dehm – auch derzeit stramm hinter Wagenknecht steht. In der Selbstdarstellung der BAG Unternehmer heißt es:
„Wir stehen in der Tradition großer Unternehmer, die wie Friedrich Engels und August Bebel deutsche Tugenden des Handwerks wie Schöpferkraft, Fleiß, Pünktlichkeit, Ordnungsliebe und Heimatbezogenheit mit sozialer Verantwortung für eine Welt ohne Krieg und kapitalistische Ausbeutung verbunden haben. Wir arbeiten für Gewinn, um gut zu leben und auch, damit Mitarbeiter gut leben können. [...] Wir wollen einen starken sozialen und demokratischen Rechtsstaat, der im Sinne unseres Grundgesetzes schützt – auch vor der Wirtschaftskriminalität der Großbanken und Konzerne. Wir wollen starke Gewerkschaften, weil nur mit starker Lohnkraft werden unsere Leistungen abgekauft.“32
– kein Wunder, dass diese Zeilen von Wagenknechts Parolen kaum mehr zu unterscheiden sind!
Wagenknechts Perspektiven
Wagenknechts Ausführungen führen sie in die Nähe der politischen Rechten. Kein Wunder, dass sie die AfD zur „rechten Arbeiterpartei“ erklärt. Den Arbeitern, die nun also angeblich das neue Herz der politischen Rechten bilden – denn nichts anderes wäre eine „Arbeiterpartei“ – dichtet sie nebenher die eigenen nationalen Animositäten an. Was bleibt, ist der Kulturkampf gegen den Linksliberalismus – für den Klassenwiderspruch schlägt sie Nationalismus und Wertegemeinschaft zu seiner Befriedung vor. Auch beschwert sie sich über die Kampagnen der „cancel culture“ explizit mit dem Beispiel, dass AfD-Gründer Bernd Lucke ihrer Ansicht nach zu Unrecht von linken Aktivisten am Abhalten von Lehrveranstaltungen und Lesungen gehindert wurde, als er nach seiner Politikerkarriere an die Universität Hamburg zurückkehrte.33
Wo Klassenwidersprüche doch hervorbrechen, predigt Wagenknecht Beschwichtigung: zwar gingen im Zuge der Querdenken-Bewegung Kleinunternehmer auf die Straße, um die Regierung zu einer Aufhebung aller Maßnahmen zum Gesundheitsschutz auch in den Betrieben zu zwingen, und bildeten so die aggressivsten Straßentrupps der liberalsten Kapitalfraktion – doch Wagenknecht erklärt, man habe diese – vermeintlichen – „Unterprivilegierten“ völlig zu Unrecht als Rechte hingestellt. „Auch bei den großen Anti-Corona-Demonstrationen, etwa jener im August 2020 in Berlin, sah der Vorstand derselben Partei nur „Verschwörungstheoretiker“ und „Nazis“ auf den Straßen“34 erklärt sie nur zwei Seiten, nachdem sie sich hinter Welt-Journalisten einreiht und über die Unteilbar-Demonstration in Berlin 2018 herzieht.
Tatsächlich spiegelt Wagenknechts Programm nur den Druck der politischen Rechten im öffentlichen politischen Bild, sowie die Interessenslage von Teilen der mittelständischen Unternehmerschaft. Sicherlich kann es sein, dass ihr sozialer Populismus im Falle einer Spaltung kurzzeitig auch ehrliche Arbeiterinnen und Arbeiter ansprechen wird. Doch wie auch die Erfahrung von Aufstehen gezeigt hat, gibt es in einer von Wagenknecht und anderen linken Intellektuellen, Unternehmern und Künstlern geführten Formation kaum die Möglichkeit demokratischer Einflussnahme, und erst Recht nicht des Aufbaus einer ernsthaften Strömungsarbeit. Eine Grundlage zum Aufbau einer neuen, linken Arbeiterpartei, wäre sie nicht.
Eine wirkliche Arbeiterpartei müsste sowohl das ökonomische, als auch das politische Programm der Arbeiterklasse vertreten – den Klassenkampf vorantreiben und sexistische, rassistische und nationalistische Spaltung ablehnen.
Wir, die Marxistische Organisation Offensiv, kämpfen für eine klassenkämpferische Partei der Arbeiterinnen und Arbeiter, die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und Banken unter Kontrolle und Verwaltung der Beschäftigten und die sozialistische Revolution. Denn nur sie kann unter Ausbeutung, Armut und Krieg einen Schlussstrich ziehen und uns die Aussicht auf eine bessere Welt eröffnen.
Schließ dich uns an!
Anmerkungen:
[1] Wagenknecht, 2021: „Die Selbstgerechten“, S. 41.
[2] Siehe zum Beispiel: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/landtagswahl-in-sachsen-alte-waehlen-cdu-selbststaendige-afd-a-988681.html
[3] https://www.swr.de/swraktuell/wahl/bw/landtagswahl-2021/wer-waehlte-wen-104.html
[4] https://de.statista.com/infografik/19203/welche-berufsgruppen-die-afd-waehlen/
[5] DIE LINKE: „Fahrplan für den Corona-Winter“, S. 4 https://www.die-linke.de/fileadmin/download/nachrichten/2020/2020-09-14_Fahrplan_Corona-Winter.pdf
[6] Mit 32,6 Prozent und damit einem Plus von 2,3 in Baden-Württemberg und 9,3 und damit einem Plus von 4 Prozent in Rheinland-Pfalz.
[7] Siehe DIE LINKE NRW: „Die Kommunalwahl NRW vom 13. September 2020“ https://www.dielinke-nrw.de/fileadmin/lvnrw/Landesparteitage/LPT_2020_MS_09_26/berichte/Decruppe_Schon_-_Kommunalwahl_NRW_2020_-_Anal__yse_und_Thesen_aus_linker_Sicht_-_16-09-20.pdf
[8] Wagenknecht, S. 34.
[9] Siehe unsere Artikel zum Thema: „Rutscht Deutschland in die Krise?“ https://offensiv.net/index.php/theorie/wirtschaft/rutscht-deutschland-in-die-krise „Umweltschutz sozial gerecht - NEIN zum Klimapaket der Bundesregierung“ https://offensiv.net/index.php/weitere-themen/umwelt/umweltschutz-sozial-gerecht-nein-zum-klimapaket-der-bundesregierung „Ende Gelände... mit arbeiterfeindlicher Öko-Politik!“ https://offensiv.net/index.php/weitere-themen/umwelt/ende-gelaende-mit-arbeiterfeindlicher-oeko-politik
[10] Wagenknecht, S. 92.
[11] Ebd. S. 331 ff.
[12] Ebd. S. 102.
[13] Ebd. S. 115 ff.
[14] Ebd. S. 224.
[15] Ebd. S. 219.
[16] Ebd. S. 226.
[17] Ebd. S. 312.
[18] In unserem Artikel „Rezession, Krise der Demokratie und wiedererstarkende Klassenkämpfe“ führen wir das ausführlich anhand von Wirtschaftsdaten aus: https://offensiv.net/index.php/theorie/wirtschaft/rezession-krise-der-demokratie-und-wiedererstarkende-klassenkaempfe
[19] Gemeint ist die Abwanderung gut ausgebildeter Fachkräfte (u.a. Lehrer, Ärzte,...) aus den verarmten Herkunftsländern.
[20] Thomas Robert Malthus, Ökonom (1766-1834) der die Theorie vertrat, Übervölkerung sei die Ursache für die Armut der niederen Klassen. Marx und Engels beantworteten seine falschen Argumente unter anderem in Engels' „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“(http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_499.htm) und Marx' „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“.
[21] Ebd. S. 154 ff.
[22] W. I. Lenin: An den Sekretär der „Liga für sozialistische Propaganda“, in: Werke, Bd. 21, Berlin 1974, S. 435.
[23] Ebd. S. 60.
[24] Ebd. S. 248.
[25] Ebd. S. 24.
[26] Ebd. S. 293.
[27] Ebd. S. 281.
[28] Ebd. S. 279.
[29] Ebd. S. 311.
[30] Ebd. S. 273.
[31] Ebd. S. 295.
[32] BAG Linke Unternehmerinnen und Unternehmer https://www.die-linke.de/partei/parteistruktur/weitere-zusammenschluesse/bag-linke-unternehmerinnen-und-unternehmer/
[33] Wagenknecht, S. 30.
[34] Ebd. S. 37.