Das Bewusstsein und die revolutionäre Führung: Fragen marxistischer Strategie

Eine Explosion von revolutionären Aufständen und Rebellionen erschüttert die Welt. Millionen von Arbeitern und Bauern, verarmte Teile der Mittelschicht und die Jugend haben - ihrer Rechte beraubt - bewiesen, dass Revolutionen nicht der Vergangenheit angehören. Die Kämpfe in Honduras, Haiti, Ecuador, Chile, Bolivien, Kolumbien, Algerien, Sudan, Irak, Libanon, Hongkong... sind Ausdruck einer aktuellen Entwicklung und machen den anderen Ländern vor, was eine weitere Zuspitzung der Phase von Revolution und Konterrevolution bedeuten kann.

 Die internationalen Aufstände sind das Ergebnis einer tiefen sozialen und politischen Krise. Reformen im Interesse der herrschenden Klasse, Privatisierungen, Kürzungen, Sparpolitik, eine soziale Ungleichheit in bisher ungekanntem Ausmaß, und autoritäre Angriffe auf die demokratischen Rechte der Bevölkerung haben tiefgreifende Auswirkungen gehabt. Das Bewusstsein von Millionen von Unterdrückten hat einen großen Schritt nach vorne gemacht, die kapitalistische Ordnung wird mehr und mehr in Frage gestellt. Die derzeitigen Kämpfe haben nicht einfach „gewöhnliches“ Ausmaß, sondern sind Ausdruck einer qualitativen Veränderung. Nicht nur wurden zahlreiche bürgerliche Regierungen mit dem Rücken zur Wand gedrückt, in einigen Fällen bis hin zu ihrem Rücktritt; die heutigen Aufstände sind auch ein Einblick in das revolutionäre Potenzial, das es zur sozialistischen Veränderung unserer Gesellschaft braucht.

In allen genannten Ländern gab es große Generalstreiks, die das wirtschaftliche und soziale Leben des Landes gelähmt haben. Ausnahmslos alle von ihnen wurden durch den Druck von unten erkämpft, gegen die bürokratischen Apparate der Gewerkschaften, die dazu gezwungen wurden, zum Streik aufzurufen. Die Massendemonstrationen waren von historischer Größe und konnten deshalb von den bürgerlichen Medien nicht einfach ignoriert werden.

Klassische Methoden des Kampfes haben in den letzten Aufständen dominiert: Streiks, Besetzungen, Straßensperren, Massenmobilisierungen, Versammlungen und Komitees. Im Libanon und im Irak konnten sich Ansätze der Klasseneinheit gegen sektiererische Tendenzen durchsetzen und haben so Organisationen, die sich vorwiegend auf sektiererische fundamentalistische Weltanschauungen stützen in die Enge getrieben.

In allen dieser Aufstände mussten sich die Massen mit der brutalen Unterdrückung durch den Staatsapparat auseinandersetzen und haben sie kühn beantwortet. Man sehe sich nur die bolivianischen Arbeiter und Bauern in El Alto, LA Paz und Cochabamba an und wie mutig sie sich den Putschisten widersetzen; mit welcher heldenhaften Entschlossenheit die chilenische Jugend in den Straßen von Santiago sich der mörderischen Regierung von Piñera entgegenstellt oder die Einwohner von Bagdad, die wieder und wieder auf die Straße gingen obwohl mehr als 500 von ihnen bereits durch die Schüsse der Armee getötet wurden. Da müssen wir nicht auf ein paar wenige Salonrevolutionäre hören, die über das mangelnde „sozialistische Bewusstsein“ lamentieren und darüber, dass sie nur eine „unreife“ Bewegung vorfinden.

Wie auch schon bei vergangenen Revolutionen, versteht die Bourgeoisie was die heutigen Ereignisse bedeuten und handelt entsprechend. Die Aufgabe von Marxisten ist es nicht, den Massen eine Lektion zu erteilen, sondern energisch mit einem Programm, einer klaren Taktik und Strategie einzugreifen um zum Sieg voranzuschreiten.

Der Stand des Bewusstseins und seine Entwicklung

Sowohl die Parteien der reformistischen Linken als auch einige, die sich selbst als revolutionär bezeichnen, hören nicht auf zu betonen, dass das zentrale Problem unserer Epoche das mangelnde Bewusstsein der Arbeiterklasse und Jugend und der Verlust ihrer Traditionen wäre. Sicherlich hatte der Zusammenbruch des stalinistischen Regimes in allen politischen Bereichen negative Auswirkungen für die Arbeiterklasse. Er öffnete einer massiven ideologischen Konterrevolution und neoliberalen Agenda Tür und Tor, beförderte die Rechtsentwicklung der traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung und schuf unter dem Label der „Globalisierung“ „neue Märkte“ für Investitionen, die Ausweitung des Handels und der Ausbeutung von Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern als Bestandteil der internationalen kapitalistischen Arbeitsteilung. Diese Faktoren zusammen waren der Grund für den auf den Zusammenbruch der Sowjetunion folgenden und über Jahre anhaltenden Wirtschaftsboom.

Doch der Klassenkampf hat 1989 nicht geendet. Schon in der Zeit vor der großen Rezession 2008 markierten eine Reihe von Ereignissen eine qualitative Veränderung der objektiven Situation. Die imperialistische Invasion im Irak, begleitet von Massenbewegungen im Westen, war eines davon. Die Propaganda eines Kapitalismus der „Demokratie, Frieden und Wohlstand“ garantiert, wurde in einer Atmosphäre der Wut über die militaristischen Abenteuer der weltweiten Großmächte in Frage gestellt. Dazu kam die revolutionäre Krise, die wichtige Regionen Lateinamerikas erschütterte: die bolivarische Revolution, die Argentinazo 2001, die riesigen Massenkämpfe in Bolivien 2003-2005, in Ecuador 2004-2007, die Bewegung gegen den Wahlbetrug in Mexiko und der Aufstand in Oaxaca im Jahr 2006, die allesamt günstige Bedingungen für einen Bruch mit dem Kapitalismus auf dem Kontinent zurückließen.

Im Anschluss daran lieferte der Arabische Frühling ein lebendiges Beispiel für die Kraft der Massen. In Ägypten und Tunesien wurden im Zuge revolutionärer Bewegungen, die sich später auf Syrien, Libyen, den Jemen und sogar Marokko ausdehnen sollten, blutige Diktaturen gestürzt. In diesen Bewegungen wurden proletarische Streiks kombiniert mit Massendemonstrationen und Aktionskomitees, und ihre internationale Auswirkung war enorm. Der Arabische Frühling inspirierten Massenbewegungen wie die 15M-Proteste im spanischen Staat und viele andere. Er war eine angsterfüllende Warnung für die korrupten Oligarchien dieser Länder und für den US-amerikanischen und europäischen Imperialismus.

Die Bedingungen für diese Massenausbrüche wurden hervorgebracht von den sich stetig verschlechternden Lebensbedingungen des einfachen Volkes, struktureller Arbeitslosigkeit – vor allem in den Reihen der Jugend –, und grausamer Repression. Es ist ein Verbrechen die Bedeutung dieser historischen Ereignisse gering zu schätzen. Eine solche aristokratische Verachtung für die Kämpfe und Erfahrungen der Massen ist uns als Marxisten fremd.

All die geschilderten Aufstände haben die Machtfrage gestellt, und deshalb müssen auch wir uns eine sehr konkrete Frage stellen: Was war der entscheidende Faktor für ihr Scheitern und für den vorübergehenden Triumph der Konterrevolution? War es die „Abwesenheit des sozialistischen Bewusstseins“ oder die mangelnde „Reife“ der Massen, oder war es der Verrat durch die stalinistischen, reformistischen und nationalistischen Führungen und das Fehlen einer revolutionären Partei, die in der Lage ist, eine Strategie zur Machtergreifung anzubieten?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir grundlegende Kernbestandteile marxistischer Theorie noch einmal aufgreifen. Anzunehmen, die Arbeiterklasse und die Unterdrückten würden mit einem abgeschlossenen Kampfplan oder einem klaren Bewusstsein über ihre politischen Ziele in eine revolutionäre Krise eintreten, bedeutet, die Dialektik von Klassenkämpfen grundsätzlich in Frage zu stellen. Trotzki erklärt es im Prolog seiner Geschichte der Russischen Revolution:

„Der unbestreitbarste Charakterzug der Revolution ist die direkte Einmischung der Massen in die historischen Ereignisse. In gewöhnlichen Zeiten erhebt sich der Staat, der monarchistische wie der demokratische, über die Nation; Geschichte vollziehen die Fachmänner dieses Handwerks: Monarchen, Minister, Bürokraten, Parlamentarier, Journalisten. Aber an jenen Wendepunkten, wo die alte Ordnung den Massen unerträglich wird, durchbrechen diese die Barrieren, die sie vom politischen Schauplatz trennen, überrennen ihre traditionellen Vertreter und schaffen durch ihre Einmischung die Ausgangsposition für ein neues Regime. [...] Die Geschichte der Revolution ist für uns vor allem die Geschichte des gewaltsamen Einbruchs der Massen in das Gebiet der Bestimmung über ihre eigenen Geschicke.“[1]

Das Bewusstsein drückt nie automatisch die Reife objektiver Bedingungen aus sondern hängt in seinem Normalzustand träge dahinter zurück. Es spiegelt vielmehr Konservativismus und Traditionalismus wider, der sich über Generationen hinweg angesammelt hat. Nur in Momenten großer Umbrüche durchläuft es abrupte Veränderungen und holt die historische Entwicklung ein.

In jeder Klassengesellschaft beeinflussen die Ideen der herrschenden Klasse – reich an angeblich „rationalen“ und „vernünftigen“ idealistischen Vorstellungen, die die etablierte Ordnung rechtfertigen sollen – entscheidend das Weltbild der Unterdrückten. Die Bourgeoisie übt ihre Macht durch ihre Stellung im Produktionsprozess aus, was ihr sowohl ideologische als auch kulturelle Überlegenheit sichert. Und das Kleinbürgertum spielt eine wesentliche Rolle bei der Verteidigung und Vermittlung dieser bürgerlichen Wertvorstellungen.

Die Massen leiden unter dem Druck der Vergangenheit, und im Gegensatz zu dem, was Sektierer denken, kann ihr Bewusstsein nicht einfach durch das bessere Argument auf die Ebene der Ereignisse gehoben werden, sondern nur durch schmerzhafte Erfahrungen im Klassenkampf. Nicht alle Schichten ziehen die gleichen Schlussfolgerungen mit der gleichen Geschwindigkeit. Niemals reift das politische Bewusstsein linear und einheitlich. In revolutionären Ereignissen entwickelt sich der Fortschritt im Bewusstsein in Sprüngen.

Der große Unterschied zwischen der russischen Revolution von 1917 und den Prozessen, die wir aufgezählt haben, liegt nicht in der „Qualität des Bewusstseins“ der Massen, die ihn anführten, sondern in der Rolle der bolschewistischen Partei in Russland, die es ermöglicht hat, die versöhnlerische Rolle der reformistischen Führer beiseite zu schieben und den bürgerlichen Staat zu stürzen , und das Fehlen einer eben solchen politischen Führung in Tunesien, Ägypten, Venezuela oder Bolivien.

Die Unterdrückten, und insbesondere die Arbeiterklasse, können sich nur auf ihre eigenen Kräfte verlassen, um das alte Regime zu beenden. Aber um dieses Vertrauen in die eigene Kraft zu gewinnen, brauchen sie eine klare Perspektive, die nur eine feste und mutige Führung bieten kann. Die Rolle einer revolutionären Partei wird zum entscheidenden objektiven Faktor von allen. Und um sich in dieser, der aktuellen Situation richtig zu orientieren ist es absolut entscheidend, nicht am andauernden Lamentieren über ein fehlendes – aber früher vorhandenes – „sozialistisches Bewusstsein“ der Massen festzuhalten.

Revolutionäre Aufstände

Die Große Rezession von 2008 war ein historischer Wendepunkt. Die von den Regierungen und Zentralbanken der Großmächte beschlossenen Maßnahmen wie die finanziellen „Rettungspakete“, der exponentielle Anstieg der Staatsschulden und eine aggressive Kürzungspolitik waren nicht in der Lage, die Voraussetzungen für ein solides und dauerhaftes Wachstum zu schaffen; die Widersprüche der Weltwirtschaft haben sich verschärft und den Boden für eine erneute Krisenentwicklung mit unvorhersehbaren Folgen bereitet.

Das ist die wesentliche Grundlage für die derzeitigen politischen Entwicklungen. Was wir sehen ist keine zeitweilig begrenzte politische Krise: Es handelt sich um eine tiefe Krise der Formen bürgerlicher Herrschaft, die sich in den letzten Jahrzehnten und besonders seit dem Zusammenbruch des Stalinismus herausentwickelt haben. Was gestern und besonders seit dem Mauerfall noch Arroganz und Euphorie auf Seiten der herrschenden Klasse war ist heute einer tiefen Unsicherheit gewichen.

Die Bourgeoisie hat versucht, die revolutionären Aufstände der vergangenen Monate nach dem immer gleichen Muster unschädlich zu machen. Zunächst haben ihre Vertreter es mit den brutalsten Repressionen versucht. Im Sudan, Algerien, Irak, Ecuador, Bolivien, Kolumbien und Chile haben wir gesehen, wie die Militär- und Polizeiapparate des Staates mit brutaler Gewalt eingesetzt wurden, die Hunderttausende von Toten, Verletzten und Verhafteten gefordert hat.

Wenn solche repressive Maßnahmen scheitern oder die Kampfbereitschaft und Entschlossenheit der Massen weiter festigen, setzt die herrschende Klasse alle Ressourcen ein, die ihr das Monopol der politischen Macht gibt.

Dann kommen die Führer der reformistischen Linken zum Einsatz, die, obwohl auch ihre Legitimation bereits beschädigt ist und obwohl sie noch so oft von den Massen überholt wurden, weiterhin bedeutenden Einfluss ausüben. Wie die materialistische Dialektik lehrt, verabscheut die Natur die Leere.

Man geht über zur Sabotage aus den Reihen der Bewegung heraus, die in der Bewegung die Illusionen über „politische Reformen“ verbreiten soll und den gleichen Zweck hat, wie die Repression: die Bewegung zu verlangsamen und sie zu zerschlagen. Natürlich hüllen eben diese reformistischen Führungen das alte System der Ausbeutung der Klassengesellschaft in den Mantel der „Demokratie“. Aber was sie anstreben sind kosmetische Veränderungen, die die Eigentums- und Machtverhältnisse nicht grundsätzlich ändern.

Dieser Aspekt des Reformismus macht indirekt auch die zentrale Schwäche des revolutionären Marxismus in unserer heutigen Zeit deutlich, denn gerade in solchen Bewegungen besteht die dringende Notwendigkeit, gegenüber den Kräften des Reformismus nicht in blindes Nacheifern und Opportunismus zu verfallen, wenn wir seinen zerstörerischen Einfluss bekämpfen wollen.

Genau deshalb ist es auch so wichtig, die Kontinuität zwischen dem arabischen Frühling und dem revolutionären Aufschwung in Lateinamerika in der ersten Hälfte der 2000er Jahre zu erkennen, um auch die Ereignisse zu verstehen, die heute Bolivien, Ecuador, Chile, Kolumbien, Sudan, Algerien, Libanon oder Irak erschüttern. Denn die Erfahrung der vergangenen Kämpfe war nicht umsonst.

Die Gesamtheit der vergangenen Niederlagen macht unter anderem deutlich, dass es diesen Nationen nicht möglich sein wird ihrer wirtschaftlichen Rückständigkeit und der imperialistischen Ausbeutung ein Ende zu setzen, ohne ihre Regierungen und die kapitalistische Klassengesellschaft zu stürzen. Die aufständische Bevölkerung all dieser Länder steht deshalb vor ähnlichen Aufgaben.

Mit der imperialistischen Unterdrückung und den durch den IWF erzwungenen neoliberalen „Reformen“ zu brechen; mit Massenarbeitslosigkeit, Armut und Privatisierungen Schluss zu machen; die Arbeitsbedingungen und Löhne drastisch zu verbessern; ein System menschenwürdiger Renten, Gesundheit und Bildung aufzubauen; Großgrundbesitz zu enteignen und Agrarreformen durchzuführen; die nationale Frage auf Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Nationen zu lösen oder die Rechte der Frau angesichts der patriarchalen Gewalt des kapitalistischen Systems zu erkämpfen: All das wird nur möglich sein, wenn die Arbeiterklasse an der Spitze aller Unterdrückten die Macht übernimmt und die nationale Bourgeoisie und das ausländische Monopolkapital enteignet.
Denn letztendlich wird nur der Sozialismus den Weg zu echter Demokratie ebnen, die auf sozialer Gerechtigkeit und kollektivem Eigentum an den Produktionsmitteln beruht.

Die chilenische Erfahrung

Marx sagte, dass aus Sicht des Proletariats ein Gramm Erfahrung eine Tonne Theorie wert ist. Den Ereignissen in Chile muss deshalb akribische Aufmerksamkeit gewidmet werden, denn sie sind vorbildhaft für entscheidende Fragen des Programms, der Taktik und der revolutionären Strategie.

Die mörderische Regierung von Piñera hängt in der Luft. Weder die Repression und die hinterlistigen Versprechungen der Regierung, noch die schädlichen Absprachen mit der Sozialistischen Partei und der Rechten waren dazu in der Lage, die Bewegung zu stoppen. Ebenso wenig ist dies der versöhnlerischen Politik der Führungen der „Mesa de Unidad Social“ (MUS) – angeführt von der Kommunistischen Partei (KPC) und der CUT – gelungen, die gezwungen waren, mit sechs Generalstreiks auf den Druck von unten zu reagieren. Wir haben in Chile einen Aufstand erlebt, wie es ihn in den letzten 30 Jahren nicht mehr gegeben hat.

Was Mitte Oktober als ein Protest gegen Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr begann, wurde zu einer Bewegung von gewaltigem Ausmaß: nicht enden wollende Generalstreiks und Massendemonstrationen. Millionen auf den Straßen, Aktionskomitees, Formen von Selbstverwaltung und Volksversammlungen haben deutlich gezeigt, wie reif die objektiven Bedingungen für eine sozialistische Revolution sind. Die Machtfrage wurde gestellt.

Das Kräfteverhältnis ist günstig für die Arbeiter und Unterdrückten. In dieser ganzen Gleichung fehlt nur ein Faktor – und dieser erklärt, warum Piñera immer noch an der Spitze der Regierung steht – eine revolutionäre Organisation mit Masseneinfluss.

Diese Tatsache ist es, was es den reformistischen Führungen erlaubt, zu manövrieren und einem Regime im Todeskampf immer wieder Leben einzuhauchen. Sie fungieren als „demokratische“ Ärzte des chilenischen Kapitalismus, und das, während das einfache Volk auf Chiles Straßen weiterkämpft.
Vom ersten Moment an hat die Piñera-Regierung auf die Bewegung mit Terror reagiert: mehr als 30 Tote und mehr als 2.000 Verwundete wurden gezählt, die Hälfte davon durch Kugeln von Militär und Polizei. Fast 200 Menschen haben ein Auge durch die Schüsse der Staatskräfte verloren und Menschenrechtsorganisationen prangern Folter und Vergewaltigungen auf Polizeiwachen an. Das Justizministerium selbst erkennt an, dass es bis zum 1. Dezember zu mehr als 20.000 Inhaftierten kam.

In den sozialen Netzwerken zirkulieren dutzende Videos, die an die blutige Unterdrückung während der Diktatur Pinochets erinnern, und in denen gezeigt wird wie Soldaten jeden, den sie aufgreifen, erschießen und verprügeln und dabei die Straffreiheit nutzen, die Piñera ihnen gewährt hat, als er den Ausnahmezustand ausrief.

Dennoch war die Repression nicht in der Lage, die Mobilisierung der Massen aufzuhalten. Die Macht von Millionen von Menschen auf den Straßen triumphierte über die Ausgangssperre. Das beinhaltet auch eine wertvolle Lektion über die Grenzen des bürgerlichen Staates – egal, wie viele Waffen er hat – in einer Situation, in der die Massen ihre Angst verlieren.

Etwas reformieren, damit alles beim Alten bleibt

Wir können den gegenwärtigen Aufstand nicht verstehen ohne uns anzusehen, was in den letzten Jahrzehnten in Chile geschehen ist. Nach dem Vorbild des spanischen Übergangs blieben die Verbrechen der Pinochet-Diktatur ungestraft.

Der Staatsapparat wurde nicht von den Faschisten gesäubert, und die Führungen der Sozialistischen und Kommunistischen Partei gaben dieser Politik auf beschämende Weise nach, indem sie sich auf einen „Übergang“ einließen, der das kapitalistische System und seine Privilegien unangetastet ließ.

Der gesamte institutionelle Rahmen, der nach dem Fall Pinochets geschaffen wurde, sicherte die Grundlagen des räuberischen Kapitalismus, die Kürzungen im öffentlichen Sektor und massiver Privatisierungen.

Die „Sozialisten“ Ricardo Lagos und Michelle Bachelet verfolgten die gleiche neoliberale Politik und bereiteten damit den Weg für die neue rechte Regierung, deren Vorsitz einer der wichtigsten Vermögenden Chiles innehat. Diese Situation hat sowohl zu um sich greifender Verarmung, als auch zu einer Unzufriedenheit mit dem gesamten politischen System geführt.

Nun ist die Bewegung über alle Deiche zu ihrer Eindämmung geflossen. Da die Repression ihre Ziele – trotz ihrem massiven Ausmaß – nicht erreicht hat, greift die Piñera-Regierung zu Manövern. Eben jener Präsident, der gestern noch erklärte, dass „das Land sich im Krieg befindet“, musste sich für diese Äußerung entschuldigen, den Kostenanstieg im öffentlichen Nahverkehr zurückziehen und einen „Sozialplan“ zur Anhebung der Renten und des Mindestlohns und zur Senkung der Preise für Medikamente und der Stromtarife vorschlagen.

Aber diese „Zugeständnisse“ konnten niemanden täuschen. Neue Generalstreiks und Massendemonstrationen fanden auf der Plaza Dignidad von Santiago (wie sie von der Bewegung umbenannt wurde) und in den übrigen chilenischen Städten statt. An dieser Stelle ging die herrschende Klasse einen neuen Schritt und bot Verhandlungen für eine „neue Verfassung“ an.

Piñera, die Parteien der Rechten und die Sozialistische Partei unterzeichneten am 15. November eine Vereinbarung zur „Reform der Verfassung“ und zur Organisation einer „Volksabstimmung“ im April 2020. Dieses Manöver – um hier kurz auf die Forderung nach einer „verfassungsgebenden Versammlung“ zu reagieren, die in der Bewegung außerordentlich populär geworden ist – ist kompletter Betrug.

Es wurde vereinbart, dass in den Verhandlungen im April zwei Fragen im Vordergrund stehen sollten: ob eine neue Verfassung gewollt ist oder nicht, und „eine Meinung zu äußern“, welche Art von Organ die Verfassung entwerfen sollte. Dabei gäbe es zwei Möglichkeiten: einen „gemischten konstitutionellen Konvent“, der zur Hälfte aus Parlamentariern und zur anderen Hälfte aus für diesen Anlass gewählten Bürgern besteht; oder einen „Verfassungskonvent“ mit all seinen gewählten Mitgliedern. Das zu wählende konstituierende Organ muss die Regeln und Vorschriften für die Stimmabgabe mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder genehmigen. Die Wahl der Mitglieder der beiden möglichen Konventionen würde im Oktober 2020 zusammen mit den Regional- und Kommunalwahlen stattfinden, und nach der Ausarbeitung der neuen Verfassung würde sie in Form einer abschließenden Abstimmung vorgelegt. Das Abkommen wurde natürlich auf den Namen Pakt „für den sozialen Frieden“ getauft.

Die Kommunistische Partei und die Führer der MUS weigerten sich, das Abkommen zu unterzeichnen, das die Regierung rehabilitieren soll und sie von jeglicher Verantwortung für ihre Verbrechen befreit. Anstatt jedoch den sofortigen Rücktritt von Piñera zu fordern und einen unbefristeten Generalstreik vorzuschlagen, bis das Regime gestürzt ist, anstatt die revolutionäre Alternative der Bildung einer Arbeiterregierung aufzumachen, die effektiv im Interesse der Bevölkerung agiert, manövriert die Partei, um zu sehen, wie sie sich an den Pakt anpassen und ihn unter Beachtung der Spielregeln, die Piñera und seine Verbündeten festgelegt haben, „verbessern“ kann.

In einem Kommuniqué des Zentralausschusses der chilenischen Kommunistischen Partei vom 20. November können wir lesen:

„(....) Wir begrüßen und unterstützen die Kämpfe der Menschen und schätzen ebenso die Tätigkeit und Vernetzung der Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und Organisationen, die sich um den Tisch der sozialen Einheit (MUS) versammelt und gemeinsam mobilisiert haben.
Wir sind der Meinung, dass es ein schwerwiegender Fehler der Regierung war, nicht auf ihre Vorschläge zu wirtschaftlichen und sozialen Reformen zu reagieren oder ihre Forderungen nach Verfassungsänderungen zu berücksichtigen. Dieser Mangel an Rücksichtnahme fand auch durch das Parlament als Institution statt.

(...) In diesem Zusammenhang fordert die Kommunistische Partei, dass geklärt wird, ob die Dringlichkeit zur Einschränkung der sozialen und politischen Mitwirkung (...), durch eine vermeintliche militärische Bedrohung begründet war oder nicht. In anderen Worten, wenn ob der Frieden durch eine Militärintervention oder einen anderen Ausnahmezustand, einschließlich eines Belagerungszustandes, gestört wurde. Sollte dies nicht der Fall sein, handelt es sich um eine ernsthafte Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, politische Teilhabe und eine Straftat gegen die Demokratie.

Nachdem die Kommunistische Partei dies geklärt hat, was uns für die Transparenz des laufenden Verfassungsprozesses als wesentlich erscheint, wird sie alle Anstrengungen unternehmen, um ihn wirklich repräsentativ im Sinne der Souveränität und Vielfalt des chilenischen Volkes zu gestalten und darüber hinauszugehen, was im aktuellen „Abkommen“ der Parteien, die es unterzeichnet haben, vorgesehen ist. Aus diesem Grund wird folgendes vorgeschlagen:

1. Zuallererst muss die Wahlpflicht für das Eingangs-Plebiszit, für die Wahl des Verfassungskonvents und für das Ausgangs-Plebiszit festgelegt werden.

2. Da es keine Möglichkeit gibt, über das Ergebnis der Verhandlungen per Volksabstimmung in einer Form zu entscheiden, die auch diejenigen Formulierungen berücksichtigt, die vom Konvent nicht angenommen wurden – wie dies in anderen Ländern bereits geschehen ist –, ist das Quorum von 2/3 zur Zustimmung der neu eingeführten Normen sehr hoch. Deshalb sollte besser ein 3/5-Quorum mit der Möglichkeit zur Enthaltung angewendet werden.

3. Der Konvent muss in seiner Zusammensetzung aus gleichen Teilen aus Männern und Frauen bestehen.

4. Es braucht Quoten für die Beteiligung indigener Völker und ein spezielles Wählerverzeichnis zu diesem Zweck.

5. Das Wahlrecht der Chilenen im Ausland muss gewährleistet sein.

6. Es muss gewährleistet sein, dass Sozial- und Gewerkschaftsführer Kandidaten für die Vertreter der einzelnen Mitgliedsstaaten sein können.

7. Öffentliche Finanzierung von Kandidaturen, einschließlich Unabhängiger, Führungsfiguren sozialer Bewegungen und Parteimitglieder.

8. Sondergesetz das ermöglicht, dass alle Personen über 14 Jahren an der Abstimmung teilnehmen.

9. Die Grundrechte müssen in der neuen Verfassung verankert und nicht daraus abgeleitet werden. Wenn es Meinungsverschiedenheiten gibt, müssen sie durch das abschließende Referendum gelöst werden.

10. Die bereits erzielten Fortschritte müssen gesichert und neue Räume für die Bürgerbeteiligung in den Stadträten geschaffen werden, deren Beschlüsse der Öffentlichkeit bekannt gegeben werden müssen.

11. Die Kommunistische Partei erklärt, dass im Prozess der Verfassungsreform und die dazu gehörigen Verhandlungen auf staatliche Gewalt verzichtet werden muss. Repressionen und die weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Demonstrationen der Bevölkerung müssen vermieden werden.

12. In der „Vereinbarung“ der Parteien, die wir nicht unterzeichnet haben, ist die Verfassungsgebende Versammlung verworfen worden, was eine wichtige Forderung der Bürger war und die Interessen der Mehrheit repräsentiert. Wir fordern, dass zumindest dem Konvent jede einzelne Eigenschaft einer konstituierenden Versammlung als Ursprung einer neuen Verfassung zugesprochen wird.

Unter diesen Prämissen wird die Kommunistische Partei alle Anstrengungen unternehmen, um eine möglichst weitgehende Konvergenz der Willensbildung zu erreichen, und wird weiterhin zur Bewegung und dem Kampf der Bürger und des Volkes beitragen.[2]

Die Führung der Kommunistischen Partei zeigt in der Tat ihre volle Bereitschaft, sich an dem Manöver der Regierung von Piñera zu beteiligen.

Wird die Verfassungsgebende Versammlung die Interessen der Arbeiterklasse und der Unterdrückten durchsetzen?

Es ist klar, welche Frage hier beantwortet werden muss: Werden sowohl die sogenannte „verfassungsgebende Versammlung“ als auch der „Konvent“ die Interessen durchsetzen können, die der Aufstand des einfachen Volkes in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung gerückt hat? Wird eine parlamentarische Versammlung mit altbekannten politischen Führern das Problem der Armutslöhne, der Privatisierung der Renten, des Mangels an öffentlicher Bildung und Gesundheit, an menschenwürdigen und erschwinglichen Wohnungen, der historischen Rechte des Mapuche-Volkes lösen, oder einen Prozess der Bestrafung der für die Unterdrückung Verantwortlichen einleiten?

Die Führung der Bewegung hat von Anfang an den Slogan der verfassungsgebenden Versammlung zum Mittelpunkt ihrer Agitation gemacht. Das ist keine historische Neuheit. In den 1970er-Jahren haben die stalinistischen und sozialdemokratischen Führer diesen Slogan während des revolutionären Kampfes gegen die Franco-Diktatur und im April 1974 auch in Portugal genutzt. Dies war auch der Ansatz der bolivarischen Revolution in Venezuela, des arabischen Frühlings und bei vielen anderen vergleichbaren Anlässen.

Für die Menschen, die ihr Leben auf den Straßen Chiles riskieren, hat dieser Slogan natürlich einen sehr konkreten Inhalt: endgültig mit dem Status Quo zu brechen und ihre Lebensbedingungen radikal zu verändern. Die „verfassungsgebende Versammlung“ bietet jedoch nur einen parlamentarischen Rahmen für die „Debatte“ über die umkämpften Fragen.

Ein neues kapitalistisches Parlament wird in keiner Weise die Natur jener Machtverhältnisse verändern, bei denen sich die wahre Macht in den Händen einer parasitären Oligarchie konzentriert, für die niemand gestimmt und die auch keiner gewählt hat, und die ihre Diktatur über die Gesellschaft durch den Besitz der Produktionsmittel und die Kontrolle des Staatsapparats ausübt. Wenn dieses neue Parlament – was auch immer sein Name sein mag – und die neue Verfassung die kapitalistische Ordnung anerkennt und die soziale Macht der zehn Familien, die Chile kontrollieren, intakt lässt, wird sich für die Millionen von Arbeitern und Jugendlichen, die heldenhaft kämpfen, nichts Wesentliches ändern.

Die Geschichte des Klassenkampfes hat die Debatte über die „verfassungsgebende Versammlung“ längst gelöst. In der russischen Revolution von 1917 mobilisierten die Bolschewiki mit diesem Slogan nicht die unterdrückte Bevölkerung. Russland war ein viel ärmeres Land mit einer viel größeren bäuerlichen Bevölkerung als heute Chile, Bolivien oder Kolumbien. Es war ein rückständiges kapitalistisches Land, in dem semi-feudale soziale Beziehungen anhielten.

Die Bolschewiki stellten den Slogan von Frieden, Brot und Land und die Notwendigkeit der Machtübernahme durch die Arbeiter- und Bauernmassen voran, um ein Regime der sozialistischen Demokratie aufzubauen. Das war Lenins Position: die Kapitalisten und Grundbesitzer zu enteignen und ihren Staat zu stürzen, indem sie ihn durch einen Arbeiterstaat ersetzen.

Die verschiedenen Phasen, die die russische Revolution durchlaufen hat, mit all den dazugehörigen historischen Unterschieden, teilen sehr wichtige Merkmale mit denen, die alle nachfolgenden Revolutionen durchlaufen haben, außer dass eine Führung wie die Bolschewiki in ihnen nicht präsent war.

In Chile schlagen die Führer der KPC und hinter ihnen viele Organisationen, die sich als revolutionär und sogar als „Trotzkisten“ bezeichnen, vor, dass eine „verfassungsgebende Versammlung“, der man alle gewünschten Adjektive (frei und souverän, frei und populär) geben kann, grundlegende Reformen durchführen kann, die man in Wirklichkeit nur durch den revolutionären Kampf und mit den Arbeitern an der Macht erringen kann.

Die Wahrheit ist immer konkret; kann es im Rahmen des gegenwärtigen Kapitalismus eine „fortschrittliche Demokratie“ geben? Werden die Bankiers, die Finanzspekulanten und die großen Monopole ein Gramm Macht aufgeben, weil eine Verfassung, die größtenteils von ihren Politikern verfasst wurde, auf soziale Gerechtigkeit oder die Notwendigkeit verweist, bei der Verteilung des Reichtums gerechter zu sein? Natürlich nicht! Die gesamte Geschichte leugnet diesen Utopismus.
Wenn der Bourgeoisie nicht wirklich ihre Macht entzogen wird, ist es ein völliger Irrtum, von fortschrittlichen Reformen zu sprechen, die den Menschen zugutekommen.

Einige mögen sagen, dass sie den Slogan der „verfassungsgebenden Versammlung“ anwenden, weil das „Bewusstsein“ nicht weit genug ist. Sie werden von ultralinken Tendenzen sprechen um die marxistische Position abzulehnen und erklären, dass die Arbeiterklasse und Jugend nicht reif genug sind, um ein revolutionär-marxistisches Programm zu akzeptieren. Kurz gesagt, sie bleiben bei der alten Ausrede: Sozialismus gestern, Sozialismus morgen, aber nie heute.

Die Realität widerlegt ihre Argumente. Die Massen in Chile stehen weit links von ihrer Führung, und das haben sie in jedem der entscheidenden Momente dieser revolutionären Krise gezeigt. Es ist nicht wahr, dass die Arbeiter und Jugendlichen den Kapitalismus aufrechterhalten wollen. Sie wissen instinktiv, denn ihre Erfahrung hat es gezeigt, dass darin das eigentliche Problem liegt. Aber ihre Führer tun alles Mögliche, um den Kampf in Richtung Parlamentarismus umzulenken, indem sie auf alle möglichen Argumente und Erpressungen zurückgreifen, einschließlich eines möglichen Militärputschs.

Die Drohung eines Staatsstreichs wird von den Führern der Sozialistischen Partei, aber auch von der KPC und der CUT als oberstes Argument dafür angeführt, nicht „weiter zu gehen“ und einen Pakt mit Piñera einzugehen. In einem offiziellen Kommuniqué der PS heißt es, dass die Verlängerung der Krise „die Grundpfeiler des demokratischen Lebens erschüttert und gewaltsame Ausschweifungen in Richtung autoritärer Abenteuer und gefährlichen Populismus wahrscheinlicher macht (...). Die demokratische Linke muss einen entscheidenden ideologischen, kulturellen und politischen Kampf gegen diese Bedrohung führen, die den Weg für eine Reaktion aller Art ebnen könnte: für die Errichtung eines diktatorischen Regimes, das ein verwüstetes Chile „befriedet“, das wehrlos dasteht angesichts eines von beiden Seiten des politischen Spektrums geführten Krieges.“

Dies ist die gleiche Argumentation, die die Führer der Unidad Popular 1973 verwendeten. Mit dem Verzicht auf die Vollendung der chilenischen Revolution durch Enteignung der Bourgeoisie und im Vertrauen auf vermeintlich verfassungstreue Militärs - wie General Pinochet - versuchten sie, Vereinbarungen mit einer vermeintlich „patriotischen“ Bourgeoisie zu treffen, würgten die fortschrittlichsten Teile der Arbeiterklasse politisch ab und weigerten sich, das Volk zu bewaffnen, obwohl sie genau wussten, dass der Militärputsch im Gange war.

Das Ergebnis dieser „Strategie“ wurde nicht nur mit dem Blut von Präsident Allende bezahlt, sondern auch mit dem Blut der besten Teile der Jugend, der Arbeiter und linken Aktivisten.

Gerade um jeden Versuch eines Militärputsches zu verhindern und die Interessen des Volkes durchzusetzen, braucht es in Chile eine revolutionäre Politik, die der Arbeiterklasse ihre gewaltige Macht bewusst macht und sie mobilisiert, um vereint die Regierung zu stürzen.

Während die Bourgeoisie davon spricht, „die Verfassung zu reformieren“, rüstet sie ihren Repressionsapparat auf, um die Bewegung zu zerschlagen, sobald die Bedingungen günstiger sind. Nicht umsonst kündigte Piñera am 7. November die Einführung einer neuen „Sicherheitsagenda“ an, die die „Wirksamkeit der Strafverfolgung“ gegen die „Barrikaden und die Behinderung der Freizügigkeit“ stärken soll; Schaffung rechtlicher Möglichkeiten für die Kriminalisierung und Verfolgung von „öffentlichen Unruhen“, Schaffung eines speziellen Spionage- und Infiltrationskorps zur Verhütung von „Straftaten“, und Straffreiheitsgarantie für die Repressionskräfte („Statut zum Schutz der Ordnungs- und Sicherheitskräfte“).

Die Forderung nach der Verfassungsgebenden Versammlung streut den Unterdrückten nur Sand in die Augen, um sie vom zentralen Ziel abzulenken. Und falls es gelingt, die Erwartungen an den Wandel auf diese zu konzentrieren, würde das bedeuten, den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von der Straße wegzunehmen (dem einzigen wirklichen Motor jeder wirklichen Transformation) und ihn an ordnungsgemäß geschaffene bürgerliche Institutionen zurückzugeben.

Chile befindet sich an einem Wendepunkt. Es ist notwendig, mit der versöhnlichen Politik zu brechen, die wie ein lähmendes Betäubungsmittel wirkt, und eine Arbeiterpartei mit einem revolutionären Programm aufzubauen. Die Bedingungen, um der Piñera-Regierung ein Ende zu setzen, mit dem kapitalistischen System und seinem Regime der Ungleichheit und Repression zu brechen, und zu beginnen, das Leben von Millionen von Jugendlichen und Arbeitern wirklich zu verändern, sind gegeben.

Das Gebot der Stunde ist, die entfesselte Bewegung voranzutreiben und ihr eine revolutionäre Form zu geben. Den unbefristeten Generalstreik - mit Besetzungen von Betrieben und Schulen - und den Selbstschutz von Arbeitern und Jugend organisieren, einen starken Appell an die Soldaten richten, das Volk nicht zu unterdrücken, Komitees in den Kasernen zu bilden, Befehle der Kommandanten nicht auszuführen und sich den Massenmobilisierungen anzuschließen.

Bei dieser Strategie ist es von grundlegender Bedeutung, die Räte und Volksversammlungen auszuweiten und Aktionskomitees in allen Fabriken, Betrieben, Bildungseinrichtungen, Wohnvierteln zu fördern ... Diese Organe müssen auf nationaler Ebene koordiniert werden durch wähl- und abwählbare Delegierte in einer revolutionären Versammlung, die eine Arbeiterregierung wählt, um mit dem kapitalistischen Regime zu brechen.

Der Kampfplan muss einhergehen mit einem klaren Programm: Verstaatlichung der Banken, der Monopole und des Bodens, ohne Entschädigung und unter demokratischer Kontrolle der Arbeiter und ihrer Organisationen. Würdige und kostenlose öffentliche Bildung und Gesundheitsversorgung für alle. Würdige Löhne und sichere Arbeitsplätze. Recht auf bezahlbaren öffentlichen Wohnraum. Würdige, 100% staatliche Rente und Schluss mit privaten Rentenfonds.

Sofortige Säuberung von Faschisten aus Armee, Polizei und Justiz: Prozess und Bestrafung für die Verantwortlichen für die Unterdrückung und die Verbrechen der Diktatur. Alle Rechte für das Volk der Mapuche. Für die Sozialistische Föderation Lateinamerikas!

Die chilenische Arbeiterklasse und Jugend knüpfen an die Geschichte an, indem sie ihre revolutionären Traditionen offenbaren. Ihr Triumph wird der Triumph aller Arbeiter und Unterdrückten der Welt sein, der den Weg für den Sieg des internationalen Sozialismus ebnet.

Revolution und Konterrevolution in Lateinamerika. Das Beispiel Bolivien

Die Lehren aus den Ereignissen in Chile können in gleicher Weise auf Ecuador, Bolivien oder Kolumbien angewendet werden.

In Ecuador kippte ein Aufstand von Arbeitern und Bauern das Gesetzespaket der reaktionären Regierung von Lenín Moreno. Konfrontiert mit der gewaltsamen Repression, setzte der Generalstreik das Land in Brand, begleitet vom Aufkeimen von Arbeiter- und Bauernmacht in verschiedenen Städten. Trotzdem wurde der Kampf vorläufig abgebrochen, als dessen Führer, insbesondere die Führer der CONAIE, sich mit dem Rückzieher der Regierung und der Zurücknahme des Dekrets 883 zufrieden gaben.

All dies hat weder dazu geführt, dass Lenín Moreno zurücktritt, noch dass seine Verbrechen oder die Verantwortlichen für die Repression verurteilt wurden. Im Gegenteil, die Zugeständnisse der Führer der Bewegung, als alle Bedingungen gegeben waren, um weiter voranzuschreiten und dem Regime eine durchschlagende Niederlage beizubringen, hat es der Bourgeoisie erlaubt, Atem zu holen. Wir erleben eine Zunahme der autoritären Maßnahmen, mit der Verhaftung zahlreicher Aktivisten und der Kriminalisierung der sozialen Bewegungen und kämpferischsten Organisationen. Offensichtlich war dies nur ein Kapitel eines Krieges, der offen bleibt und bald wieder ausbrechen wird.

Im Falle Boliviens haben die Arbeiter und Bauern ein außergewöhnliches Beispiel von Klasseninstinkt, revolutionärem Bewusstsein und dem Willen zum Kampf gegen den von der Oligarchie und dem US-Imperialismus organisierten Putsch gegeben. Das einzige, was sie daran gehindert hat, die Putschisten zu besiegen, war das Fehlen einer Führung auf der Höhe der Situation.
Evo Morales und die Führer von Movimiento Al Socialismo (MAS), die Bolivien in den letzten 14 Jahren regiert haben, verzichteten nicht nur darauf, den Widerstand gegen den Putsch anzuführen: Sie waren die Ersten, die das Schlachtfeld verlassen haben und aus dem Land geflohen sind oder die Massen zum Rückzug aufgerufen haben. Schließlich haben dieselben "Führer" ein schändliches Abkommen mit der Putschistenregierung von Jeanine Áñez geschlossen, die für die Ermordung von 33 Menschen und für mehr als 800 Verletzte seit ihrer betrügerischen Machtübernahme verantwortlich ist.

Am 23. November verkündete Áñez den Pakt mit der Bürokratie von Central Obrera Boliviana (COB) und 73 anderen Führungskräften verschiedener sozialer Organisationen, von denen die große Mehrheit mit MAS verbunden ist. Das Abkommen wurde am nächsten Tag im Kongress und im Senat mit den Stimmen der Senatoren und Abgeordneten von MAS ratifiziert, mit klarer Mehrheit in beiden Kammern.

Diese Kapitulation, die unterzeichnet wurde, während die Arbeiter und Bauern noch mit der Repression zu kämpfen hatten, erfüllt alle Kernpunkte, die die Putschisten interessierten: Sie annulliert die Präsidentschaftswahlen vom 20. Oktober und verhindert, dass Morales und sein Vizepräsident García Linera bei den Neuwahlen antreten können, und vor allem verpflichtet sie alle von der MAS geführten oder beeinflussten Arbeiter- und Bauernorganisationen, zur Demobilisierung aufzurufen, indem sie in der Praxis die Legitimität der konterrevolutionären Regierung anerkennen.

Die Bürokratien von COB und MAS haben mit ihrer Kapitulation das erreicht, was die Oligarchie mit ihrer Repression nicht erreicht hatte: den sich im ganzen Land ausbreitenden Aufstand zu stoppen und die mörderische Regierung von Áñez abzusichern. Damit ebnen sie den Weg für die Pläne der Oligarchie und des US-Imperialismus, die bereits alle Mechanismen in Gang gesetzt haben, um ihren Sieg bei den nächsten Wahlen zu garantieren.

Nach allem, was passiert ist, müssen wir uns immer noch anhören, wie die reformistischen und stalinistischen Führer der lateinamerikanischen und internationalen Linken Morales' „Verantwortung“ als einzige Möglichkeit anpreisen, „Gewalt und Blutvergießen zu verhindern“. Und was ist in Bolivien passiert – und passiert weiter –, seit der Machtübernahme der Putschistenregierung, durchgesetzt mit der Unterstützung der USA, der Bestätigung durch die EU und dem mitschuldigen Schweigen der internationalen Sozialdemokratie, außer Gewalt gegen das Volk?

„Man hätte nichts anderes tun können“, „es gab nicht genügend Stärke oder Bewusstsein.“ Aber hat das etwas mit der Realität zu tun? Nein und tausendmal nein! Das Schlimmste am schändlichen Einknicken von Morales und den Führern von MAS und COB ist, dass sie es genau in dem Moment taten, als sich der Aufstand der Arbeiter und Bauern, trotz der Weigerung dieser Führer, ihn zu fördern, von El Alto und Cochabamba, den ersten Epizentren des Widerstands, auf viele andere Gebiete des Landes ausbreitete, selbst nach Santa Cruz de la Sierra (von wo aus die Putschisten ihre Offensive begonnen hatten), und Spaltungen in der Armee erzeugte.

Eine Strategie, die die Komitees, Räte und Versammlungen auf ganz Bolivien ausgedehnt hätte, mit der Schaffung von Volksmilizen gegen die faschistischen Banden und gegen Polizei und Armee, hätte es nicht nur erlaubt, den Putsch zu besiegen, sondern auch eine revolutionäre Regierung der Arbeiter und des Volkes durchzusetzen. Nicht der Mut und die Tapferkeit der Bauern und Arbeiter sind gescheitert, sondern die Politik der Lähmung und des Rückzugs einer völlig degenerierten Führung.

Alle „Argumente“ dieser demoralisierten Führer, die sich der Verteidigung der Privilegien verschrieben haben, die ihre Parlamentssitze, öffentlichen Ämter oder Gewerkschaftsposten ihnen verschaffen, beschränken sich auf die zutiefst reaktionäre Vorstellung, es sei das Handeln der Massen auf der Straße, das die Repression der herrschenden Klasse provoziert. Demnach ist die Lösung, um diese Repression zu mildern oder zu stoppen, den Kampf aufzugeben. Würden die Sklaven diese Ideen übernehmen, dürften sie niemals den Weg ihrer Befreiung in Angriff nehmen.

Die Arbeiterklasse und das Volk Boliviens haben durch die Politik ihrer Führer einen schweren Rückschlag erlitten, aber sie wurden nicht besiegt. Sie bewahren mächtige revolutionäre Traditionen, die nicht verloren gegangen sind und noch stärker wieder zu Tage treten werden, wenn die Zeit reif ist.

Tausende von Kämpfern haben Lehren aus den Erfahrungen der letzten Jahre gezogen und setzen sie in den aktuellen Entwicklungen in die Praxis um. In Kolumbien wurde die Duque-Regierung von dem bedeutendsten Generalstreik seit Jahrzehnten und einer Massenbewegung überrascht, die der Oligarchie einen schweren Schlag versetzt hat. Bolsonaro hat vorübergehend auf seine aggressivsten Konterreformen verzichtet, weil er ein Überschwappen der Bewegung fürchtet. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis ähnliche Vorgänge in Brasilien, dem Land mit dem mächtigsten Proletariat der Region, oder im Argentinien von Alberto Fernández ausbrechen.

Die Bourgeoisie dachte, sie hätte die Situation in Lateinamerika, Afrika, dem Nahen Osten und dem Rest der Welt unter Kontrolle. Aber der Klassenkampf hat einen Schlag nach dem anderen gesetzt, um deutlich zu machen, dass dies nicht der Fall ist.

Eine Welt in Aufruhr

Die kapitalistische Welt befindet sich in einem allgemeinen Umbruch, der in vielen seiner Merkmale mit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts vergleichbar ist.

Der Kampf zwischen den imperialistischen Mächten um die Kontrolle von Märkten, Einflussbereichen und Rohstoffen sowie der Handelskrieg zwischen den beiden Großmächten, die um die Welthegemonie kämpfen, haben sich nur weiter verschärft.

Die internationalen Beziehungen sind durcheinander geraten: Allianzen lösen sich auf, angeschlagen von der Rezession und dem weltweiten Klassenkampf. Die stabilen Blöcke der Vergangenheit sind verschwunden. Der Brexit setzt ein großes Fragezeichen über die Zukunft der Europäischen Union und drückt den alten Kontinent weiter in eine untergeordnete Position.

Die militärischen Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten, die ganze Länder in einen Zustand der Barbarei zurückwerfen und den Tod von Hunderttausenden unschuldiger Menschen, den Exodus von Millionen von Flüchtlingen und eine neue Balkanisierung des Planeten verursachen, zeigen den völlig reaktionären Charakter eines Systems im Niedergang auf.

Die tiefe Krise des Parlamentarismus, die Delegitimierung der Sozialdemokratie und der traditionellen konservativen Parteien, die Spaltung der herrschenden Klasse, in einem Land nach dem anderen, sowie die bonapartistischen und autoritären Tendenzen zahlreicher Regierungen zeigen, dass die „demokratischen“ Herrschaftsformen der Bourgeoisie bröckeln. Das innere Gleichgewicht des kapitalistischen Systems hat sich in Luft aufgelöst.

Krisenzeiten markieren den Stabilitätsverlust der mittleren Schichten und ihre virulenten Ausschläge nach links und rechts. Der Aufstieg der Ultrarechten und die Bildung reaktionärer und nationalistischer Regierungen spiegeln diesen Prozess der enormen Polarisierung wider, aber auch das Scheitern der Sozialdemokratie und der neuen Organisationen, die sich an die bürgerliche Demokratie klammern.

Rassismus, nationale Unterdrückung oder Gewalt gegen Frauen sind tief in der Ideologie der kapitalistischen Parteien verankert. Die populistischen und ultrarechten Organisationen tun nichts anderes als all die reaktionären Einstellungen und Vorurteile auszunutzen, die die „demokratische“ Rechte, mit der Duldung und Beteiligung der Sozialdemokratie, zuvor normalisiert hat.

Die Antwort der reformistischen Neuen Linken ist genauso schwach wie der alte sozialdemokratische Diskurs. Für die Führer von Podemos, Syriza, Die Linke, Bloco de Esquerda und anderen ist der beste Weg, um den Durchmarsch der Reaktion zu stoppen, das Vertrauen in das gute Funktionieren des Parlamentarismus. Aber es ist gerade die Unfähigkeit der kapitalistischen „Demokratie“, die Krise zu lösen, der gleichen „Demokratie“, die die Großbanken rettet und die Kürzungen und Austeritätspolitik verteidigt, welche die objektiven Bedingungen für eine Rückkehr zum reaktionären Nationalismus schafft.

Gegenüber den leeren Appellen, die die Reformisten aller Couleur anbieten, stellen wir Marxisten ein Aktionsprogramm auf, basierend auf der Mobilisierung und Einheit der Arbeiterklasse über "Rassen" und Grenzen hinweg, das soziale Forderungen (Wohnen, öffentliche Gesundheit und Bildung, würdige Löhne und Arbeitsbedingungen, Schutz und Verteidigung der Rechte von Einwanderern, usw.) und demokratische Forderungen (Aufhebung aller in den letzten Jahren verhängten bonapartistischen und autoritären Gesetze, Säuberung der faschistischen Elemente aus dem Staatsapparat, Recht auf Selbstbestimmung, usw.) verbindet, zum Kampf gegen das System und für die sozialistische Transformation.

Obwohl der Aufschwung der Ultrarechten bei Wahlen eine ernste Warnung ist, ist er nicht mit dem Phänomen des Faschismus der 1930er Jahre vergleichbar, der eine organisierte Massenbewegung hatte und nach entscheidenden Niederlagen der Arbeiter triumphierte. Die soziale und Wähler-Basis dieser Formationen ist nicht so gefestigt, wie es scheint, und die - lateinamerikanische, europäische und weltweite - Arbeiterklasse ist noch weit davon entfernt, ihre Kraft und ihr Potential, die Gesellschaft zu verändern, ausgeschöpft zu haben.

Der Kampf um die Revolutionäre Partei

Die parlamentarische Repräsentation einer unterdrückten Klasse liegt deutlich unter ihrer wirklichen Stärke. Noch vor kurzem rühmte sich Piñera damit, Chile als „Oase“ der Demokratie und Stabilität zu präsentieren. Dasselbe sagte die internationale Presse nach Macris Triumph im Jahr 2015 über Argentinien, während die Reformisten und Sektierer den „Rechtsruck“ auf dem Kontinent ausriefen.
Die klassischen Bedingungen einer Revolution haben sich in den Aufständen, die wir erleben, gezeigt: Spaltungen in der herrschenden Klasse, die Entschlossenheit der Unterdrückten, der Arbeiter und der Jugend, den Kampf bis zu Ende zu führen und ihr Leben zu opfern, Neutralität oder sogar Unterstützung der Mittelschichten für die aufständische Bevölkerung ... Aber das Wichtigste von allem fehlt: eine revolutionäre Partei, bewaffnet mit dem Programm des Marxismus und mit Einfluss unter den Massen.

In den großen Kämpfen fragt ein Revolutionär nicht, was im Falle einer Niederlage passieren wird. Er fragt, was getan werden muss, um den Sieg zu erringen. Es ist möglich, es ist erreichbar, deshalb muss es getan werden. Die konkrete Aufgabe besteht darin, im Laufe dieser Ereignisse die Illusionen, die reformistische Führer in kosmetische politische Reformen schüren, in eine massive Unterstützung für ein Programm für die sozialistische Transformation zu verwandeln.

Das durch die Krise der sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien entstandene Vakuum wurde teilweise von einer eigenartigen, schwachen und schwankenden Form des „linken Reformismus“ gefüllt, der seine organische Beschränktheit bewiesen hat. „In der Natur und in der Gesellschaft“, schrieb Lenin, „gibt es keine reinen Phänomene und kann sie nicht geben.“
Indem sie mit schwindelerregender Geschwindigkeit ihr eigenes Programm aufgab, sobald sie Parlaments- und Regierungsposten erobert hatte, hat diese neue reformistische Linke die Ambitionen breiter Teile ihrer sozialen Basis massiv enttäuscht.

Syriza, und jetzt Podemos, sind ein guter Beweis dafür, was wir sagen. Beide Formationen entwickelten sich dank der Unterstützung von Hunderttausenden von jungen Menschen, Arbeitern und Aktivisten. Aber ihre Reihen speisten sich auch aus zahlreichen Karrieristen, die ihrem Programm und ihrer politischen Praxis den klassenübergreifenden und abgeschwächten Charakter verliehen. Es ist der unverkennbare Stempel des Kleinbürgertums, das die Führung der sozialen Mobilisierung und der von ihr geschaffenen Organisationen übernimmt. Eine reine politische Enteignung, die sich unverändert in allen Epochen und Situationen wiederholt.

Die Professoren und gebildeten Jugendlichen, Journalisten, Anwälte und ihresgleichen - viele von ihnen ausgeschlossen in der aktuellen Verteilung der institutionellen und wirtschaftlichen Macht - übernehmen die Kontrolle über die Massenbewegung und schieben die Arbeiter beiseite, verkünden ihre Abneigung gegen das kollektive Handeln der Klasse und rufen einen Kult der Individualität aus, der so verachtenswert ist wie ihr maßloses Ego.

Mit ihrer „außergewöhnlichen Bildung“ versuchen sie zu zeigen, dass die bürgerliche Ordnung durch geschickte Nutzung von Parlamenten und Regierungen von innen heraus verändert werden kann. Aber die herrschende Klasse lacht sich kaputt über diese dummen Illusionen.

Diese Formationen sind auch der Preis für die Schwäche, mit der die Kräfte des revolutionären Marxismus in diese neue historische Periode eingetreten sind. Wir müssen jedoch betonen, dass diese Parteien als Folge der brutalen Auswirkungen der wirtschaftlichen und sozialen Krise, der Delegitimierung der Institutionen und der Sehnsucht nach einem revolutionären Ausweg entstehen, den weite Teile der Arbeiter, der Jugend und der verarmten Mittelschichten fordern. Die Bewegung hat ihr eigenes Werkzeug erschaffen, nachdem sie es in ihren traditionellen Massenorganisationen versucht hat.

Dies zu berücksichtigen ist unerlässlich, um sich richtig zu orientieren und nicht in Sektierertum zu verfallen. Die marxistische Theorie behält ihre ganze Gültigkeit, wenn sie sagt, dass die reformistischen Führungen der Arbeiterbewegung kein mechanisches Spiegelbild der politischen Reife der Klasse sind.

„Nur die 'Vulgärmarxisten'“, schreibt Trotzki, „die annehmen, daß Politik die reine und direkte „Widerspiegelung“ der Ökonomie ist, können glauben, daß die Führung die Klasse direkt und einfach widerspiegelt. In Wirklichkeit gibt die Führung, die sich über die unterdrückte Klasse erhob, unvermeidlich dem Druck der herrschenden Klasse nach. (...)Die Auslese und die Erziehung einer wirklich revolutionären Führung, die dem Druck der Bourgeoisie standhalten kann, ist eine außerordentlich schwierige Aufgabe. Die Dialektik des historischen Prozesses drückte sich selbst am glänzendsten darin aus, daß das Proletariat des rückständigsten Landes, Rußlands, unter bestimmtem historischen Bedingungen, die weitsichtigste und mutigste Führung hervorbrachte. Dagegen hat das Proletariat in dem Land der ältesten kapitalistischen Kultur, Großbritannien, auch heute noch die dümmste und kriecherischste Führung. (...) All die verschiedenen Arten der ernüchterten und entmutigten Vertreter der Pseudomarxisten gehen dagegen von der Annahme aus, daß der Bankrott der Führung nur die Unfähigkeit des Proletariats „widerspiegelt“, seinen revolutionären Auftrag zu erfüllen. Nicht alle unsere Gegner bringen diesen Gedanken klar zum Ausdruck, aber alle – Ultralinke, Zentristen, Anarchisten, ganz zu schweigen von den Stalinisten und Sozialdemokraten – schieben die Verantwortung für die Niederlagen von sich selbst auf die Schultern des Proletariats.“[3]

Die Notwendigkeit der revolutionären Partei ergibt sich aus der Tatsache, dass die Arbeiterklasse und Jugend nicht mit einem fertigen Verständnis ihrer historischen Interessen geboren werden. Daher besteht die Aufgabe der Partei darin, aus den Erfahrungen des realen Klassenkampfes zu lernen, energisch in ihn einzugreifen und den Unterdrückten und vor allem der Avantgarde der Arbeiter und Jugend zu zeigen, dass sie würdig ist, ihre Führung zu übernehmen.

In jedem einzelnen der Klassenkampfprozesse, die wir gerade erleben, sei es in den großen Klima-Mobilisierungen, in der Massenbewegung der proletarischen Frauen, in den Erhebungen und Aufständen, die die Welt durchziehen, tritt die Jugend als Speerspitze der Bewegung auf. Dieses Phänomen ist bedingt durch die Erneuerung, die die Arbeiterklasse weltweit erfahren hat, mit der neuen historischen Phase der neoliberalen Konterreformen und dem Verlust der politischen Autorität der traditionellen, sowohl politischen als auch gewerkschaftlichen, linken Formationen. Es ist eine strategische Aufgabe, diese Sektoren zu erreichen, um sie für die Truppen des internationalistischen Sozialismus zu gewinnen.

Es ist klar, dass das wahre Programm des Marxismus vor tausenden Aktivisten in Folge des Zusammenbruchs des Stalinismus, der Lügenkampagnen und Falschdarstellungen der Bourgeoisie und der Politik der Reformisten verzerrt erscheint. Und diese Verwirrung wird genährt durch die Vorurteile, die die kleinbürgerlichen Führer der neuen Organisationen der parlamentarischen Linken verbreiten.

Teil einer marxistischen Partei zu sein, die für die Arbeitermacht kämpft, kollidiert mit dem Individualismus des radikalisierten Kleinbürgertums. Das abstoßende Beispiel, das die Degeneration der gewerkschaftlichen, sozialdemokratischen und ehemaligen stalinistischen Bürokratie darbietet, erzeugt ebenfalls Schwierigkeiten für den revolutionären Kampf. Aber es ist nicht weniger wahr, dass vor Jahrzehnten weitere gewaltige Hindernisse errichtet wurden, als es große Arbeiterparteien mit genügend Autorität und Einfluss gab, um Revolutionen im Namen des Sozialismus anzustoßen, indem sie eine ganze Generation von Kämpfern falsch ausgebildet haben.

Wir Marxisten sind Optimisten, weil wir uns auf die Dynamik der Geschichte stützen. Die Produktivkräfte der Welt brauchen ein neues soziales System, um sie harmonisch zu organisieren und zu planen. Aber der Sozialismus wird nicht vom Himmel fallen; er kann nur das Ergebnis des bewussten Handelns der Arbeiterklasse und Jugend zum Sturz des kapitalistischen Systems sein.
Im Übergangsprogramm, geschrieben in einer außergewöhnlichen objektiven Lage, zeigte Trotzki eine tiefe Einsicht, die heute mehr denn je zutrifft:

„Das ganze Gerede, wonach die geschichtlichen Bedingungen noch nicht „reif“ genug seien für den Sozialismus, ist nur das Produkt der Unwissenheit oder eines bewußten Betrugs. Die objektiven Voraussetzungen der proletarischen Revolution sind nicht nur schon „reif“, sie haben sogar bereits begonnen zu verfaulen. Ohne sozialistische Revolution, und zwar in der nächsten geschichtlichen Periode, droht die ganze menschliche Kultur in einer Katastrophe unterzugehen. Alles hängt ab vom Proletariat, d. h. in erster Linie von seiner revolutionären Vorhut. Die historische Krise der Menschheit ist zurückzuführen auf die Krise der revolutionären Führung.“[4]

Wir erleben eine Epoche von Revolution und Konterrevolution, und es gibt keine Zeit zu verlieren.

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[1] Leo Trotzki: Geschichte der Russischen Revolution, Band 1: Februarrevolution, 1930.
[2] https://pcchile.cl/2019/11/20/comunicado-del-comite-central-del-partido-comunista-de-chile/
[3] Leo Trotzki: Verteidigung des Marxismus, 1939/40.
[4] Leo Trotzki: Das Übergangsprogramm, 1938.

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