Der Aufstand der chilenischen Jugend, der Arbeiter und der Bevölkerung gegen die rechte Regierung von Piñera im Oktober 2019 ist für sich genommen zu einer der fortschrittlichsten und tiefgreifendsten revolutionären Massenbewegungen der letzten Jahre geworden.
Wie es häufiger in der Geschichte der Fall ist, brachte auch in Chile ein weiterer sozialer Angriff in einer längeren Reihe von Verschlechterungen für die Arbeiterklasse – in diesem Fall die Anhebungen des Preises der U-Bahn-Tickets in Santiago – das Fass zum Überlaufen. Aus Quantität wurde Qualität und das tief angesammelte Unbehagen explodierte. Einer der Slogans, die von den Demonstranten in jenen ersten Tagen am meisten gesungen wurden, war „es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre“. So einfach wie treffend: Es fasste die Schlussfolgerungen breiter Bevölkerungsgruppen zusammen, die nicht nur Piñeras Angriffe und seine sozialen Kürzungen in Frage stellten, sondern die Politik der herrschenden Klasse und des politischen Regimes, die seit 1990 nach dem Ende der blutigen Pinochet-Diktatur eingeführt wurden.
Jahrzehntelange Unterdrückung, Ungleichheit und Ausbeutung
Die Pinochet-Diktatur, die 1973 von den Kapitalisten mit Unterstützung des US-Imperialismus errichtet wurde, um den revolutionären Prozess des Landes zu zerschlagen, hat Zehntausenden von Militanten der Gewerkschaften und linken Parteien das Leben gekostet. Der vom Militär gesäte Terror, die außergerichtlichen Hinrichtungen, die Folter und die rücksichtslose Unterdrückung ermöglichten es der herrschenden Klasse (chilenisch und international), Chile zum Labor ihrer neoliberalen Politik zu machen: Privatisierungen und Abbau öffentlicher Dienstleistungen, eine Offensive der Bosse hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und soziale Verarmung folgten einander Schlag auf Schlag und wurden später in ähnlicher Form (natürlich mit jeweils unterschiedlichem Ausmaß) von der herrschenden Klasse auf andere Länder übertragen.
Pinochet war durch den Massenkampf und die überwältigende Niederlage, die er bei der Volksabstimmung von 1988 erlitten hatte, gezwungen, seine Macht abzutreten, aber auch der sogenannte demokratische Übergang war ein völliger Betrug. Die Verfassung, die 1980 von der Diktatur erlassen wurde, und das gesamte Netzwerk reaktionärer und repressiver Gesetze, die damit einhergingen, wurden intakt gelassen, Verbrechen ohne Gerichtsverfahren und Bestrafung belassen und die neoliberale Politik vertieft.
Der chilenische Kapitalismus veränderte sein äußeres Erscheinungsbild, aber die Dominanz der Finanzoligarchie und einer Handvoll reicher Familien blieb ungeschlagen. Dies war das Ergebnis des politischen Pakts zwischen dem rechten Pinochet-Flügel und der Concertación, einer Koalition zwischen der ebenfalls rechten Christdemokratie (DC) und der Sozialistischen Partei (PS), der von den Führern der Kommunistischen Partei implizit akzeptiert wurde (KPC).
Piñera, ebenso wie der wahrscheinliche Kandidat seiner Partei für die nächsten Präsidentschaftswahlen, Joaquín Lavín, begannen ihre politische Karriere auf Posten der Diktatur und spielten eine wichtige Rolle bei der Ausgestaltung ihrer Wirtschaftspolitik. Alle chilenischen Regierungen seit 1990, einschließlich der der Neuen Mehrheit (eine Koalition der PS, der KPC und anderer Kräfte zwischen 2012 und 2016), haben im Wesentlichen dieselbe Politik beibehalten, die von der herrschenden Klasse gefordert wurde.
Chile ist heute auf Platz 8 der Länder der Welt mit der stärksten sozialen Ungleichheit, auf gleicher Höhe mit Ruanda. Laut einer Studie der Weltbank haben die reichsten 1% 26,5% des Nationaleinkommens, während die ärmsten 50% nur 2,1% behalten. Hinzu kommt ein fast vollständiges Fehlen eines öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesens, die von der Diktatur abgebaut und privatisiert wurden; eine Situation, die keine nachfolgende Regierung rückgängig gemacht hat. Dazu kommt die Abschaffung des öffentlichen Rentensystems, ersetzt durch private Fonds, die von den Banken (AFP) kontrolliert werden und Millionen von Rentnern zum Elend verurteilen.
Revolutionäre Situation
Im Jahr 1915 führte Lenin in seiner Broschüre Der Zusammenbruch der II. Internationale die Elemente auf, die eine revolutionäre Situation charakterisieren:
„1. Unmöglichkeit für die herrschenden Klassen, ihre Herrschaft in unveränderter Form aufrechtzuerhalten [...] Für den Ausbruch einer Revolution genügt es gewöhnlich nicht, dass „die Unterschichten nicht mehr den Willen haben“, sondern es ist auch noch erforderlich, dass „die Oberschichten nicht mehr die Fähigkeit haben“, es in der alten Weise weiter zu treiben. 2. Verschärfung der Not und des Elends der unterdrückten Klassen über das gewohnte Maß hinaus. 3. Beträchtliche – aus den angeführten Ursachen sich herleitende – Steigerung der Aktivität der Massen, die sich in einer „friedlichen“ Epoche wohl ruhig ausplündern lassen, in stürmischen Zeiten aber durch die Gesamtheit der Krisen Verhältnisse, ebenso aber auch durch die „Spitzen“ selbst zu selbständigem historischen Auftreten angetrieben werden.
Ohne diese objektiven Veränderungen, die nicht nur vom Willen einzelner Gruppen und Parteien, sondern auch vom Willen einzelner Klassen unabhängig sind, ist eine Revolution – der allgemeinen Regel nach – unmöglich. Die Gesamtheit dieser objektiven Veränderungen heißt eben revolutionäre Situation.“1
All diese Faktoren waren von Oktober bis November 2019 in Chile präsent. Die massive Einbeziehung der Jugend und der Arbeiterklasse in den Kampf und die Unterstützung breiter Sektoren der Mittelschicht, die sich nach links gewandt haben und von der Wirtschaftskrise und den Jahrzehnten betroffen waren. Kürzungen, Prekarität und Korruption trieben sie zu dem, was zuvor unmöglich schien: Sie besiegten den Belagerungszustand und konfrontierten die brutale Unterdrückung des Staates2, wodurch tiefe Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse entstanden. Umfragen der kapitalistischen Presse gaben Piñera eine lächerliche Unterstützung von weniger als 8%. Die Ablehnung der Bevölkerung erstreckte sich auf die Parteien, die seit 30 Jahren als Säulen des Regimes auftreten: die pinochetistische Rechte, die DC und die PS.
Die Mobilisierung überwältigte auch die Führer der KP Chiles und des Gewerkschaftsbundes Central Unitaria de Trabajadores (CUT) und zwang sie, am 23. und 24. Oktober einen 48-stündigen Generalstreik auszurufen, der das Land trotz historischer Überwachung durch den Staat lahmlegte. Massive Demonstrationen überschwemmten am nächsten Tag die Straßen: Allein in Santiago, der Hauptstadt, forderten eineinhalb Millionen Menschen den sofortigen Rücktritt von Piñera, das Ende der Unterdrückung und die Aufgabe von Sparmaßnahmen und Kürzungen.
In dem oben zitierten Artikel fügte Lenin hinzu: „Weil nicht aus jeder revolutionären Situation eine Revolution entsteht, sondern nur aus einer Situation, in der zu den oben auf gezählten objektiven Wandlungen noch eine subjektive hinzukommt, nämlich: die Fähigkeit der revolutionären Klasse zu revolutionären Massenaktionen, genügend stark, um die alte Regierungsgewalt zu zerschmettern (oder zu erschüttern), – sie, die niemals, selbst in der Epoche der Krisen nicht, „fällt“, wenn man sie nicht „fallen lässt“.“
Die chilenischen Massen inszenierten diese „revolutionären Aktionen der Massen, die stark genug waren, um die alte Regierung zu zerstören (oder sie zusammenbrechen zu lassen)“: drei Generalstreiks in wenigen Monaten, unzählige Demonstrationen und massive Proteste. Sie schufen sogar revolutionäre Gremien für die Koordination ihres Kampfes wie Volksversammlungen, offene Räte ..., die sich über die Arbeiterklasse und die Volksviertel ausbreiteten und über die reformistischen politischen und gewerkschaftlichen Führungen hinweggingen.
Wenn die Organisationen der Linken, insbesondere die KPC (Mehrheit in der CUT und am „Tisch der sozialen Einheit“ (MUS), die die Mobilisierungen koordinierten), aufgerufen hätten, das Land in einem unbefristeten Generalstreik zu lähmen; wenn sie eine Zusammenarbeit mit einfachen Soldaten gesucht hätten, um sie für die Revolution zu gewinnen, einen konkreten Plan zur Besetzung der Fabriken, Universitäten und Schulen aufgestellt und Zehntausende von Aktivisten mobilisiert hätten, um die revolutionären Bestrebungen zu vereinen und zu erweitern, wenn sie zum Aufbau von Rätestrukturen und ihrer Koordinierung in einer nationalen Versammlung aufgerufen hätten... die rechte Regierung wäre weggefegt worden.
Eine revolutionäre Versammlung unter der Leitung einer Arbeiterregierung, die ein sozialistisches Programm verteidigt, das auf der Verstaatlichung der Banken, der Enteignung der Oligarchie und der demokratischen Kontrolle der Arbeiterklasse über die Wirtschaft beruhte, hätte einen Schockplan zur Lösung der Probleme der Arbeiterklasse und Armen auf den Weg bringen können. Es besteht kein Zweifel, dass sich Millionen von Menschen von dieser Alternative angezogen gefühlt hätten, was den Weg zur Transformation der Gesellschaft geebnet hätte.
Diese Strategie fehlte jedoch völlig in der Gleichung. Als am 15. November 2019 der rechte Flügel, die PS und die „Breite Front“ (FA) das „Abkommen für Frieden und die neue Verfassung“ unterzeichneten, gelang es Piñera, die Macht in seinen Händen zu behalten. Dieser Pakt zählte zunächst auf die Zurückhaltung der Mesa de Unidad Social – der Plattform, die die wichtigsten sozialen Bewegungen und Gewerkschaften des Landes zusammenbringt – die CUT und die KPC. Letztere gaben jedoch die Vertiefung der Revolution auf und unterstützten im Wesentlichen die Strategie des Abkommens.
Volksabstimmung im Oktober 2020
Die Volksabstimmung vom 25. Oktober 2020 war ein Kompromiss zwischen dem mörderischen Regime und den reformistischen Führern der Linken, um die revolutionäre Bewegung zu entwaffnen und den Kampf in die Arena des Parlamentarismus umzuleiten. Während die „Arbeiterführer“ Illusionen in eine neue Verfassung schürten, ergriffen die Regierung und die Kapitalisten natürlich andere Arten von Maßnahmen. Piñera investierte mehr als 15 Millionen Dollar in die Ausrüstung von Militär und Polizei und kündigte den Einsatz von 40.000 Karabinern zur Kontrolle von Demonstrationen an, nachdem im Parlament neue repressive Gesetze verabschiedet worden waren, die von der PS schändlich unterstützt wurden.
Trotz dieser pausenlos stattfindenden Hindernisse und Manöver versetzen Millionen junger Menschen und Arbeiter der Reaktion erneut einen schweren Schlag, diesmal auf ihrem eigenen Boden. Ein Jahr nach dem Ausbruch der Revolution stimmten 5.884.076 der Teilnehmer an der Volksabstimmung (78,27%) für die Aufhebung der Verfassung von 1980. Weitere 5.644.418 (78,99%) stimmten ebenfalls der vollständigen Wahl des Konvents zu, das für die Ausarbeitung der neuen Verfassung zuständig ist, statt für den Vorschlag der Regierung, dass 50% der konstituierenden Versammlung aus Mitgliedern des derzeit rechtsdominierten Parlaments bestehen sollten.
In den proletarischen Stadtteilen war die Abstimmung massiv, mit 10 bis 15 Beteiligungspunkten mehr als in den Stadtteilen der oberen Mittelklasse und mit einem Prozentsatz der Unterstützung für die „Zustimmung“ von mehr als 80 bis 85%. Nur 5 Gemeinden im ganzen Land unterstützten die Pinochet-Verfassung, darunter eine Militärbasis und die drei Gemeinden mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen. Zehntausende junger Menschen und Arbeiter gingen am nächsten Tag auf die Plaza Dignidad (dem Epizentrum des revolutionären Ausbruchs von 2019), um zu verdeutlichen, dass die Kräfte, die einst die chilenische Revolution losgetreten haben, immer noch aktiv sind.
Selbst die bürgerliche Presse musste dies in ihren Analysen anerkennen. Die Ergebnisse bedeuteten nicht nur eine bloße Erneuerung der Verfassung, geschweige denn, dass die Massen bereit sind, mehr als zwei Jahre auf die Erfüllung ihrer Forderungen zu warten, bis eine neue Verfassung verabschiedet wird.
Angesichts dieser Entwicklungen ist die zu klärende Frage nicht schwer zu verstehen: eine kosmetische Reform des Regimes propagieren, die es der herrschenden Klasse ermöglicht, alle ihr zur Verfügung stehenden Mechanismen zu nutzen, um einen neuen Verfassungstext zu entschärfen und dann gegen diese Artikel zu verstoßen, wenn sie ihren Interessen entgegenstehen; oder eine sozialistische Alternative vorschlagen, die auf der Kraft basiert, die die Massen im Kampf demonstrierten, und die offen für die Enteignung der politischen und wirtschaftlichen Macht der chilenischen Bourgeoisie eintritt.
Die Frage der verfassungsgebenden Versammlung, einschließlich der Position, die Sektoren der antikapitalistischen Linken unter dem Slogan der alternativen, „freien und souveränen verfassungsgebenden Versammlung“ einnahmen, muss im Lichte dieses Dilemmas geprüft werden. Um diese Debatte zu vertiefen, ist es wichtig, auf historische Erfahrungen sowohl in Chile als auch international zurückzugreifen und uns auf die Grundlagen der marxistischen Theorie zu stützen.
Die Lehren der »Unidad Popular«
1970 eröffnete der Sieg von Salvador Allende, Kandidat der Unidad Popular (UP, deutsch: Volkseinheit, gebildet aus PS, der KPC und anderen linken Organisationen) bei den Präsidentschaftswahlen eine revolutionäre Krise, die Lateinamerika und die ganze Welt erschütterte. Im politischen Programm der UP wurden politische und soziale Reformen vorgeschlagen, um die Lebensbedingungen der Bevölkerung schrittweise zu verbessern, und über einen „chilenischer Weg zum Sozialismus“ über den Parlamentarismus und seiner Gesetzgebung theoretisiert. Allende hoffte, die ihm zur Verfügung stehenden institutionellen Ressourcen, einschließlich des angeblichen Respekts der chilenischen Armee für die Verfassung, mobilisieren zu können, um die aktive Opposition des US-Imperialismus, der Oligarchie und der extremen Rechten zu umgehen.
Die Illusionen, durch parlamentarische Reformen den „Sozialismus“ zu erreichen, standen bald der Realität gegenüber. Die Bourgeoisie und der Imperialismus nutzten die Mehrheit des rechten Flügels im Parlament, um alle Gesetze zu sabotieren, die Allende umzusetzen versuchte. Sie hatten nicht immer Erfolg, weil die Befugnisse des Präsidenten sehr wichtig waren, aber ihre feste Kontrolle über den Staatsapparat und große Unternehmen, Banken und Grundstücke ermöglichte es ihnen, alle Maßnahmen, die ihre Klasseninteressen beschneiden würden, perfekt zu sabotieren. Die Reaktion setzte ihr gesamtes legales Arsenal ein, aber auch das illegale, mobilisierte die faschistischen Banden und nutzte die Lumpen- und Arbeitgeberorganisationen, um die Arbeiter- und Jugendvorhut zu terrorisieren.
Im Kontext der sich verschärfenden Wirtschaftskrise und der offensichtlichen Feindseligkeit der christlichen Demokratie gegenüber der extremen Rechten von Patria y Libertad zogen die arbeitenden und populären Massen sehr schnelle politische Schlussfolgerungen und wandten sich immer mehr nach links. Um sich gegen die Bosse zu verteidigen, gründeten sie in Santiago und anderen Städten Arbeiterräte und koordinierten Streikkomitees, die in der Praxis als Organisationen der Arbeitermacht fungierten und bald zu einer echten Herausforderung für die Bourgeoisie wurden. Eigene Institutionen zur Angebots- und Preiskontrolle (JAP) wurden gebildet, um gegen wirtschaftliche Sabotage und Spekulation zu kämpfen. Diese Organisationen baten die Regierung um ihre Vereinigung und die Ersetzung des bürgerlichen Parlaments, um eine revolutionäre Versammlung der Arbeiter- und Volksmacht aufzubauen.
Die Führung der PS und der KPC, beeinflusst von der stalinistischen UdSSR und der reformistischen Doktrin der Etappentheorie, versuchte, diese Vorschläge zu versöhnen und Vereinbarungen mit dem „progressiven“ Flügel der christlichen Demokratie zu treffen, anstatt diese Vorschläge anzunehmen und sich auf die außerordentliche Stärke der Massen in Aktion zu stützen. Anstatt eine allgemeine Offensive gegen die Rechte und den Imperialismus zu starten, die Wirtschaft zu verstaatlichen und die Kontrolle über die Produktion durch die Arbeiter zu erzwingen, versuchten sie, die Reaktion abzumildern, Zugeständnisse über Zugeständnissen zu machen, und alle ihre Hoffnungen auf die Eroberung der Mehrheit im bürgerlichen Parlament bei einer bevorstehenden Wahl zu setzen.
Einige Tage vor dem Militärputsch vom 11. September 1973 marschierten hunderttausende Arbeiter am Palacio de la Moneda vorbei und baten den Präsidenten um Waffen und eine starke Hand gegen die Putschisten, die sich bereits offen verschworen hatten. Aber Allende und die Führer der KPC haben nichts dagegen unternommen. Wochen zuvor hatten sie die verfassungsmäßige Loyalität der Armee gelobt und Augusto Pinochet zur Führung des Generalstabs befördert. Die Arbeiterklasse wusste mit Sicherheit, dass der Putsch entfesselt werden würde, aber trotz des Martyriums von Allende und seinen Gefährten bewaffneten die stalinistischen und reformistischen Führer der Linken weder die Arbeiter noch gingen sie in die Offensive. Die politische Lähmung ihrer Strategie wurde mit einem Fluss von Arbeiterblut bezahlt, und das Militär ergriff mit Unterstützung der CIA die Macht.
Die militärische Reaktion dominierte den Kontinent: Chile, Argentinien, Uruguay, Paraguay, Bolivien, Kolumbien ... Die chilenische Erfahrung zeigte, wie so viele andere, die Unmöglichkeit einer sozialistischen Transformation, die auf die Mechanismen des bürgerlichen Parlamentarismus und der Klassenzusammenarbeit zurückgreift. Eine wichtige Lektion für aktuelle Ereignisse.
Die konstituierende Versammlung und die Position der Marxisten
Ein unveräußerliches Prinzip des Marxismus ist, dass „Wahrheit immer konkret ist“. Unter bestimmten politischen Umständen, insbesondere im Kampf gegen despotische Regime oder Diktaturen, haben Marx, Lenin und Trotzki neben einer weiteren Reihe von Übergangsforderungen den demokratischen Slogan der „konstituierenden Versammlung“ in ihr Programm aufgenommen. Zum Beispiel verteidigte Marx den Slogan einer verfassungsgebenden Versammlung in der Revolution von 1848 für Deutschland, sofern er die Mobilisierung der Volksmassen gegen die absolute Monarchie zur Vereinigung des Landes und zugunsten demokratischer Rechte ermöglichte.
Es ist auch wichtig zu erkennen, dass die demokratischen Bestrebungen der Massen von der Bourgeoisie verraten wurden, die es vorzog, sich in die Hände der monarchischen Reaktion zu werfen und einen Pakt mit ihr zu schließen. Der Weg zu einer Revolution, die nicht nur die bürgerliche Eroberung der politischen Demokratie, sondern auch das aufständische Proletariat und seine sozialistischen Ziele stärkte, war der Grund für die Inkonsistenz, die auch das Kleinbürgertum zeigte, seine Schwankungen und seine Kapitulation im Kampf. Marx und Engels haben viel darüber geschrieben, und Texte wie die Ansprache der Zentralbehörde an den Bund, bleiben eine Quelle der Inspiration für die Gegenwart.3
Der Slogan der konstituierenden Versammlung wurde auch von Lenin und Trotzki in der Revolution von 1905 im Kampf gegen den zaristischen Despotismus als Teil anderer Slogans verwendet, die eine grundlegende Rolle in der revolutionären Agitation spielten: Achtstundentag, freie Meinungsäußerung, Versammlung und Demonstration, das Recht auf Selbstbestimmung und vor allem den bewaffneten Aufstand, den Sturz des Regimes. Lenin und Trotzki lehnten jedoch gleichzeitig jede Art von Bündnis mit der russischen Bourgeoisie kategorisch ab, wiesen das vom Zaren am 17. Oktober 1905 nach der beeindruckendsten Streikwelle in der Geschichte herausgegebene Verfassungsmanifest zurück und nannten es einen Betrug für das Volk.
Mitten in einer revolutionären Offensive begannen die russischen Marxisten nicht, mit Premierminister Witte über die Ausarbeitung der neuen Verfassung oder die Vorbereitung der Wahlen zur Duma zu verhandeln, sondern verstanden, dass dieses Zugeständnis das Ergebnis der Kraft der Bewegung war und sie förderten die Intensivierung des Kampfes und die Stärkung der Sowjets, der Organe der Arbeitermacht, die in der Hitze des Streiks entstanden, um den revolutionären Sturz des Zarismus zu erreichen.
Die Erfahrung der russischen Revolution von 1917 ist noch aufschlussreicher. Die Bolschewiki hatten die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung in ihrem Programm, als die Februarrevolution stattfand. Aber als der Zarismus durch die bewaffnete Aktion von Petrograder Arbeitern und Soldaten gestürzt wurde, spielte dieser Slogan in der bolschewistischen Propaganda keine Rolle mehr. Wir fordern jeden auf, uns einen Text von Lenin und Trotzki zu zeigen, der zwischen Februar und Oktober 1917 entstand und in dem der Slogan der konstituierenden Versammlung als Achse ihrer Agitation verwendet wird. Es wird eine vergebliche Anstrengung sein.
Die Bolschewiki mobilisierten die Arbeiterklasse und die Bauernschaft mit einem Programm und Slogans, die den sozialistischen Charakter der Revolution hervorhoben. Natürlich gab es unter den russischen Arbeitern und Bauern „demokratische Illusionen“, ebenso wie unter den damaligen Reformisten, den Menschewiki und den Sozialrevolutionären starke Tendenzen zur Versöhnung mit der Bourgeoisie. Aber die Bolschewiki haben sie nie genährt, im Gegenteil, sie erklärten geduldig, dass der einzige Weg, um echte Demokratie einschließlich sozialer Gerechtigkeit zu erreichen, darin bestand, den Kapitalismus, das Eigentum der Vermieter und den Krieg zu beenden und die Revolution auf ganz Europa auszudehnen. Alle Macht den Sowjets, Frieden, Brot und Land zu erreichen. Kurz gesagt, das war das Programm des Bolschewismus.
Im Russland von 1917 wurde der Slogan einer verfassungsgebenden Versammlung von den menschewistischen Reformisten und Sozialrevolutionären aufgestellt. „Ihr erinnert Euch vielleicht, dass die russischen herrschenden Klassen, und ihnen nach auch die Versöhnler, alle wichtigen Fragen der Revolution „bis zur Konstituierenden Versammlung" verschoben, wobei sie gleichzeitig deren Einberufung auf jede Weise zu verzögern suchten. Das gab den Großgrundbesitzern und Kapitalisten die Möglichkeit , bis zu einem gewissen Grad ihre eigenen Interessen in der Agrar- und der Industriefrage zu verdecken usw.“, erklärt Trotzki in Die Lösung der Nationalversammlung in China.
Es gibt weitere Beispiele. Als sich deutsche Seeleute, Soldaten und Arbeiter im November 1918 gegen den Kaiser erhoben und durch die Monarchie fegten, gründeten sie die Republik der Arbeiter- und Soldatenräte. Zu dieser Zeit wurde die deutsche Bourgeoisie im Ersten Weltkrieg besiegt und die Bolschewiki übernahmen die Macht in Russland. Die Möglichkeiten für den Triumph der sozialistischen Revolution in Deutschland waren mehr als offensichtlich. Aber die herrschende Klasse und der Generalstab reagierten schnell, um die Bedrohung abzuwehren. Unter Berufung auf die reformistische Führung der Sozialdemokratischen Partei (SPD), die in den Kriegsjahren ihre unterwürfige Zuverlässigkeit bewiesen hatte, gelang es ihr, die Arbeiter- und Soldatenräte von innen heraus zu kontrollieren, indem sie sich auf den Slogan „freier“ Wahlen zur „konstituierende Versammlung“ beriefen.
Das Ergebnis dieser konterrevolutionären Strategie, die die „demokratische“ Forderung der „konstituierenden Versammlung“ übernahm, ist bekannt. Der Einheitsfront zwischen SPD, Generalstab, Freikorps und Bourgeoisie gelang es, den Arbeiteraufstand in Berlin im Januar 1919 niederzuschlagen und Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu ermorden. Die Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung fanden Tage später in einer Atmosphäre konterrevolutionären Terrors statt, in der die Kommunistische Partei außer Kraft gesetzt und Tausende ihrer Militanten getötet und inhaftiert wurden. Es begann das Zeitalter der Weimarer Republik, doch die ernsten sozialen und wirtschaftlichen Probleme, die sich aus der Zersetzung des Kapitalismus ergaben, ließen nicht lange auf sich warten.
Welches Programm braucht die chilenische Arbeiterklasse, um zu gewinnen?
Angesichts der unwiderlegbaren Natur dieser Tatsachen argumentieren die Verteidiger des Slogans der „freien und souveränen konstituierendenVersammlung“, dass es in Russland 1917 eine Situation der Doppelmacht gab und in Chile keine. Offensichtlich sind im Zuge der chilenischen Revolution im Oktober 2019 die Sowjets nicht so entstanden, wie sie von Februar bis Oktober in Russland konstituiert waren. Doch es gab populäre Organisationen wie die offenen Räte, die die Tendenz widerspiegeln, alternative Machtorgane von unten zu bilden. Darüber hinaus waren die Bedingungen einer revolutionären Situation in Chile in den von Lenin definierten Begriffen gegeben: Die herrschende Klasse war über die Frage nach der richtigen Antwort auf den Massenkampf (Unterdrückung oder Zugeständnisse) gespalten; die Mittelschichten wandten sich nach links oder zumindest der Neutralität zu; die Arbeiterklasse, die Jugend und Armen bewiesen ihre Bereitschaft, den Kampf fortzuführen, indem sie die Pläne der Reaktion vereitelten.
Der Faktor, der in der Situation fehlte, war die Anwesenheit einer revolutionären Partei mit echtem Einfluss unter den Massen und bewaffnet mit einem Programm zur Machtergreifung. Und das Fehlen dieses Faktors war erneut entscheidend für die Entwicklung der Ereignisse. Im Verlauf der Revolution brauchen die Doppelmachtorganisationen den bewussten Impuls einer Führung, die bereit ist, den Kampf bis zum Ende zu führen, damit er sich entwickeln, verallgemeinern und vereinen kann. Hat eine Massenpartei der chilenischen Linken eine solche Strategie vorgeschlagen? Nein, ganz im Gegenteil. Die Parteien der PS und der Frente Amplio sprangen auf Piñeras Zug, und die KPC weigerte sich zunächst sogar, einen unbefristeten Generalstreik zum Sturz der mörderischen Regierung zu fordern.
Die Frage ist daher so zu beantworten, dass der Slogan der verfassunggebenden Versammlung, einer bürgerlichen Institution, die letztendlich die Macht der chilenischen Oligarchie nicht untergräbt, in den Vordergrund gestellt wurde, um die revolutionäre Bewegung zu besiegen und sie in den Sumpf des bürgerlichen Parlamentarismus zu demobilisieren. Schließlich, da die reformistische Linke, die KPC und die CUT alles auf die „Lösung“ der verfassunggebenden Versammlung setzen, wurde diese Option für weite Teile der Bevölkerung zur dominierenden Perspektive. Die Massen unterstützen diesen Weg, weil sie glauben, dass er Lösungen für Kürzungen und Privatisierungen, Sparmaßnahmen, Arbeitslosigkeit und Unterdrückung bringen wird.
Die Position der Marxisten kann natürlich nicht darin bestehen, einen Boykott dieser Versammlung zu fordern – ein solcher Lösungsweg wäre kindisch und steril. Unsere Verpflichtung ist es, die Massen in ihrer Erfahrung zu begleiten, unsere Ansichten geduldig zu erklären und eine marxistische Kritik zu üben, um das Bewusstsein und die Kampfbereitschaft der Avantgarde zu erhöhen. Was wir brauchen sind revolutionäre Führer, die konkret und detailliert erklären, dass wir keine kapitalistische Verfassung brauchen, sondern den Sturz des Kapitalismus. Die für eine Arbeiterregierung eintreten, die die Banken, Monopole und das Land verstaatlicht, weil dies der einzige wirkliche Weg ist, um Beschäftigung und angemessene Renten, öffentliche Gesundheit und Bildung zu gewährleisten, Privatisierung und Korruption zu beenden, die Rechte der Mapuche zu erkämpfen und die Säuberung von Faschisten aus dem Staatsapparat.
Die chilenische Bourgeoisie ist sich bewusst, dass im gegenwärtigen Kontext sogar eine konstituierende Versammlung manipuliert und kontrolliert werden muss. Aus diesem Grund haben sie durchgesetzt, dass eine qualifizierte Mehrheit von 2/3 erforderlich ist, damit die neue Verfassung umgesetzt werden kann. Mit etwas mehr als einem Drittel der Kammer könnte die Rechte daher gegen jeden Verfassungsartikel, der ihren Interessen widerspricht, ein Veto einlegen. Darüber hinaus wurden die Fristen für die Genehmigung im Mai 2022 festgelegt! Diese Verzögerung zielt darauf ab, die Bevölkerung mit endlosen parlamentarischen Debatten zu demoralisieren, während sie weiterhin ihre kapitalistische Politik anwenden und ihre Streitkräfte wieder aufbauen.
Marxisten sind keine Sektierer. Wir haben das Ergebnis des Referendums als einen enormen Schlag nach rechts gewertet und verstehen, dass die im Oktober 2019 begonnene chilenische Revolution zwar in einer vorübergehenden Phase der Ebbe ist, die objektiven Bedingungen jedoch so explosiv sind, dass die Bewegung unweigerlich reaktiviert wird. Zum Beispiel steht der KPC-Kandidat für die nächsten Präsidentschaftswahlen, Daniel Jadue, mit 17,9% an erster Stelle in den Umfragen. Diese Daten geben einen Eindruck von der tiefgreifenden Verlagerung der chilenischen Gesellschaft nach links und dem enormen Potenzial, eine konsequente revolutionäre Alternative aufzubauen.
Es muss jedoch klar und deutlich gesagt werden, dass kein bürgerliches Parlament und keine verfassungsgebende Versammlung, egal wie „frei und souverän“ sie sich selbst proklamiert, die Probleme der Unterdrückten lösen können.
Alle historischen Erfahrungen zeigen, dass die demokratischste Verfassung oder das demokratischste Parlament auf ein unüberwindbares Hindernis stößt: den Klassencharakter des kapitalistischen Staates. Der bürgerliche Staat und all seine Institutionen: Gesetze, Richter, Armee und Polizei, Parlament, ... reagieren letztendlich auf die herrschende Klasse. Selbst wenn Massendruck die Verabschiedung von Gesetzen zu Gunsten der Arbeiter und Armen erzwingt oder sie ein linksdominiertes Parlament wählen, sabotiert der Staatsapparat jede fortschrittliche Maßnahme. Dies ist die Erfahrung in Ländern, in denen die Linke seit Jahren regiert und fortschrittliche Verfassungen wie in Venezuela, Bolivien oder Ecuador genehmigt wurden.
Das grundlegende Merkmal, das die heutige Situation auf internationaler Ebene auszeichnet, ist die Angst der herrschenden Klasse vor der Revolution. Der Widerspruch zwischen der enormen Stärke und Kampfbereitschaft der Unterdrückten und dem Fehlen einer marxistischen Führung mit einem Programm und einem Aktionsplan, um zu gewinnen, lässt die revolutionären Prozesse ungeheure Verzerrungen, Fortschritte und Rückschläge erleiden, und viele von ihnen enden in Niederlagen. Ein wesentlicher Unterschied zu anderen historischen Momenten besteht jedoch darin, dass die Bourgeoisie trotz der Kapitulation der reformistischen Führungen und ihrer offenen Zusammenarbeit mit der kapitalistischen Ordnung die offenen revolutionären Prozesse nicht endgültig schließen konnte. Die Frage der verfassunggebenden Versammlung in Chile ist ein deutliches Beispiel.
Anmerkungen
(1) W. I. Lenin: „Der Zusammenbruch der II. Internationale“ In: Lenin – Werke, Berlin 1974, Bd. 21, S. 206.
(2) Piñera verfügte eine Ausgangssperre und einen Ausnahmezustand, um die Proteste zu beenden. Nach Angaben des Nationalen Instituts für Menschenrechte verursachte die Polizeiaktion allein im ersten Monat der Mobilisierung 1.915 Verletzte und 20 offiziell anerkannte Todesfälle, mehr als die Hälfte aufgrund von Schüssen des Militärs und der Polizei mit Gummikugeln, scharfer Munition oder nicht identifizierten Geschossen, außerdem verloren 182 Menschen im Zuge der Gefechte ein oder zwei Augen. Hinzu kommen mehrere tausend Angeklagte und Inhaftierte, von denen sich viele noch im Gefängnis befinden.
(3) „Das Verhältnis der revolutionären Arbeiterpartei zur kleinbürgerlichen Demokratie ist dies: Sie geht mit ihr zusammen gegen die Fraktion, deren Sturz sie bezweckt; sie tritt ihnen gegenüber in allem, wodurch sie sich für sich selbst festsetzen wollen.
Die demokratischen Kleinbürger, weit entfernt, für die revolutionären Proletarier die ganze Gesellschaft umwälzen zu wollen, erstreben eine Änderung der gesellschaftlichen Zustände, wodurch ihnen die bestehende Gesellschaft möglichst erträglich und bequem gemacht wird. [...]
Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch und unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und daß wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind. Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen.“
Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 7, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 244-254.
(4) Nach Leo Trotzki: China, Band 2, Berlin 1975, S. 242-247.