„Was eine Partei in geschichtlicher Stunde an Mut, Tatkraft, revolutionärem Weitblick und Konsequenz aufzubringen vermag, das haben Lenin, Trotzki und Genossen vollauf geleistet. Die ganze revolutionäre Ehre und Aktionsfähigkeit, die der Sozialdemokratie im Westen gebrach, war in den Bolschewiki vertreten. Ihr Oktober-Aufstand war nicht nur eine tatsächliche Rettung für die russische Revolution, sondern auch eine Ehrenrettung des internationalen Sozialismus.“[1]
Diese Worte Rosa Luxemburgs vermitteln eine Vorstellung davon, was die russische Revolution 1917 für abertausende Revolutionäre auf der ganzen Welt bedeutete. Die bolschewistische Partei Lenins und Trotzkis hatte noch nicht die Bürokratisierung oder den ideologischen Verfall erlitten, die mit der stalinistischen Konterrevolution einhergingen. Niemand konnte damals erahnen, dass kaum zwanzig Jahre später dieselbe Generation von Kommunisten, die eben noch die Machtergreifung erkämpfte, einem beispiellosen Massaker zum Opfer fiel und auf Stalins Befehl auf rücksichtloseste Weise ausgerottet wurde.
Das Studium der russischen Revolution und der anschließenden Konterrevolution stellt auch in der heutigen Zeit keine vergebliche Mühe dar. Der Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaft und die zunehmende Diskreditierung der Institutionen und Parteien, die das kapitalistische System verteidigen, ist ein guter Grund, sich eingehend mit der Politik der Bolschewiki unter Lenin und Trotzki zu befassen.
Obwohl mehr als ein Jahrhundert vergangen ist und die zahllosen Apologeten des Kapitalismus in den Parlamenten und Universitäten, in der Presse und in den Gewerkschaften weiterhin versuchen, den Marxismus anzuprangern – ihm vorwerfen, er sei eine veraltete Ideologie des 19. Jahrhunderts, die höchstens noch in ein Museum für historische Kuriositäten gehört – ist die Wahrheit, dass die Prinzipien und die dialektische Methode des wissenschaftlichen Sozialismus nach wie vor das nützlichste Werkzeug sind, um die Ursachen des gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Chaos, der sich im Schatten von schreiender Ungleichheit verschärfenden politischen Polarisierung und die Revolutionen, Aufstände und Erhebungen in immer mehr Ländern auf allen Kontinenten der Welt zu verstehen.
Während die parlamentarische Linke – sei sie sozialdemokratischer Abstammung oder aus den Überresten der offiziellen „Kommunistischen“ Parteien entstanden – Klassenkollaboration und nationale Einheit propagiert, ist es in dieser Zeit von Revolution und Konterrevolution höchst aufschlussreich, einen genauen Blick auf die russische Revolution zu werfen.
Es genügt, die Haltung der Bolschewiki mit der der reformistischen Führer der Linken im 21. Jahrhundert zu vergleichen. Anstatt zu organisieren, zu erziehen, das Bewusstsein und die Kampfbereitschaft der Unterdrückten zu erhöhen, versuchen sie, die narkotisierende Ideologie der Sozialpartnerschaft und des Reformismus in die Praxis umzusetzen. Eine solche Politik in Zeiten einer akuten kapitalistischen Krise erlaubt es der Bourgeoisie, ihre Herrschaft immer wieder zu stabilisieren – natürlich zu hohen Kosten – und verleiht der ultra-rechten Demagogie Flügel.
Ist diese Politik der alten und der neuen Linken heute etwas Neues im Vergleich zu früher? Bereits Lenin, Trotzki, Rosa Luxemburg und die Marxisten davor mussten immer wieder mit der Waffe der Kritik die Apostel der Klassenversöhnung aufs schärfste bekämpfen. Ihre Schriften gegen den Reformismus widerlegen auch heute noch mit überraschender Aktualität alle Prediger der parlamentarischen Unterwerfung unter das Kapital. Solche verräterischen Ideen sind nichts anderes als eine Neuauflage der Positionen Kautskys oder Bernsteins und versuchen uns zu überzeugen, dass ein konsequenter Bruch mit der bürgerlichen Ordnung eine verrückte Idee wäre.
Das Programm und die Arbeit der Bolschewiki und der Kampf, den Leo Trotzki führte, um ihre theoretische und praktische Arbeit wiederherzustellen – von den stalinistischen Häschern begraben unter einem Berg von Leichen – sind ein Leitfaden für unsere Arbeit in der heutigen Zeit. Es hilft uns zu wissen, dass viele der Fragen, die sich uns Revolutionären jetzt stellen, in der Vergangenheit bereits beantwortet wurden.
Bedeutet das, dass sich nichts geändert hat, dass die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen gleichgeblieben sind? Im Gegenteil. Die Welt hat radikale Veränderungen durchlebt: Die Sowjetunion ist Geschichte, ausradiert von derselben stalinistischen Bürokratie, die während der großen Säuberungen die Macht an sich gerissen und die kommunistische Avantgarde vernichtet hatte; Und auch in China – einem noch vor Kurzem rückständigen Land, das nun um die Weltherrschaft kämpft – hat die kapitalistische Konterrevolution triumphiert.
Doch die Tatsache, dass die Geschichte große Wandlungen mit sich gebracht hat bedeutet nicht, dass der Klassenkampf aufgehört hat zu existieren oder dass die tiefe Krise des Kapitalismus gelöst wurde. Genauso wenig bedeutet es, dass die utopistische Vorstellung eines menschlicheren Kapitalismus in den Reihen der Linken heute nicht genauso grassiert wie früher.
Achtzig Jahre nach der Ermordung Leo Trotzkis verteidigen wir weiterhin mit voller Überzeugung seinen außergewöhnlichen Beitrag zum Arsenal des Marxismus, seine Bestrebung zum Aufbau einer revolutionären Partei, die in den Massen der Arbeiterklasse und der Jugend verwurzelt ist und seinen kompromisslosen Kampf für den proletarischen Internationalismus. Umgeben von einem Sturm der Konterrevolution, Desertion und Demoralisierung und angesichts der schrecklichsten privaten Rückschläge leistete Trotzkis Widerstand und hinterließ uns ein Erbe, für das es mit aller Kraft und höchster Opferbereitschaft zu kämpfen lohnt: die sozialistische Weltrevolution.
Auf den folgenden Seiten legen wir die grundlegenden Ideen Trotzkis und der Bolschewiki in der russischen Revolution dar, ihre Rolle in der Führung des jungen Sowjetstaates, die objektiven und subjektiven Faktoren, die zur bürokratischen Degeneration der UdSSR, der bolschewistischen Partei und der Dritten Internationale führten sowie Trotzkis Rolle bei der Widerherstellung des Kampfes für Arbeiterdemokratie und des leninistischen Programms an der Spitze der Linken Opposition.
Aufgrund der Länge des Textes haben wir ihn in drei Teile gegliedert.
Lenin, Trotzki und die Oktoberrevolution
Der Aufstand der Arbeiter und Soldaten Petrograds (das heutige St. Petersburg, Anm. d. Ü.) im Februar 1917 markierte den Beginn der russischen Revolution. Der Erste Weltkrieg und der Zusammenbruch des zaristischen Regimes in Russland bedingten das gewaltsame Einbrechen der Massen auf den Schauplatz der Geschichte, was zwar das Ende vom Zar Nikolaus II. bedeutete, nicht aber die unmittelbare Eroberung der Macht durch die Massen selbst. Obwohl allen bewusst war, dass der Sturz des Zaren tiefgreifende Veränderungen bedeutete, war nicht klar, in welche Richtung die Ereignisse gehen würden.
Die scharfsinnigeren Kreise der Bourgeoisie wussten, in welcher Gefahr ihr System schwebte: Der Sturz des Absolutismus könnte Tür und Tor für die Vernichtung des russischen Kapitalismus öffnen. Daher gingen sie ohne Umschweife ans Werk, mit politischen Manövern ihre Privilegien, Geschäfte und imperialistische Herrschaft zu sichern. Auf diese Weise läuteten sie eine Periode der Heuchelei und Doppelzüngigkeit ein; sie versuchten, das Volk mit ihrem Gerede von Revolution zu täuschen, während sie gleichzeitig die Herrschaft ihrer Klasse in der russischen Gesellschaft sicherten.
Die Farce der Klassenkollaboration
Nach den Februartagen gab es für die herrschende Klasse wenig Spielraum und keine Möglichkeit, auf direkte Unterdrückung zu setzen, auch wenn einige Teile genau das forderten: Das Volk befand sich im offenen Aufstand und große Teile des russischen Heeres waren von der revolutionären Euphorie angesteckt. Es mussten andere, realistischere Möglichkeiten her, den drohenden Sturm einzudämmen. Eine Atempause schaffte die rege Mitarbeit der „fortschrittlichen“ Teile der Intelligenz, die ihre Hilfe anboten, die Situation zu stabilisieren. Die liberale Bourgeoisie, die im Februar lediglich passive Zuschauer waren, wurde durch die versöhnlerischen Teile der Linken in die neue Regierung des Landes gehievt. So gelang es einem im Sterben liegenden System, sich über Wasser zu halten.
Die Atmosphäre der Verbrüderung und Euphorie bereitete den Boden für Opportunisten und Karrieristen und das Geschehen wurde vorübergehend von denjenigen bestimmt, die eine Versöhnung zwischen den Klassen anstrebten. Die Führung dieses Flügels bildeten die Parteien der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki[2] und obwohl diese in der Vergangenheit in vielen Fragen uneins gewesen waren (einige kamen aus einer populistischen, anarchistischen oder gar terroristischen Tradition, andere hatten einen marxistischen Ursprung, den sie aber schon lange aufgegeben hatten), waren sie nun fest vereint im Geist des Sozialchauvinsimus und Patriotismus und im Bestreben, die Revolution im bürgerlichen Rahmen zu halten.
Auf dieser Grundlage schlug das von diesen Parteien dominierte Exekutivkomitee der Sowjets (Arbeiterräte, Anm. d. Ü) der Duma[3], die sich vor allem aus bürgerlichen Politikern und Vertretern des alten Regimes zusammensetzte, die Bildung einer Provisorischen Regierung vor. Diese beiden Institutionen – die Sowjets als Organe der Arbeiterdemokratie und die Provisorische Regierung – bildeten eine widersprüchliche Situation der Doppelmacht. Unter der Anleitung der Versöhnler ließen sie sich aber schnell auf die Farce einer Zusammenarbeit im „nationalen Interesse“ ein.
Die reformistischen Organisationen und die bürgerlichen Politiker dieser neuen Regierung sollten dringende Reformen durchführen: den Krieg beenden, das Land aufteilen, die Industrie entwickeln, die Versorgung verbessern, die nationale Frage lösen etc. Keiner dieser Punkte ging über die Grenzen der elementarsten Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie in anderen Ländern hinaus. Aber keiner von ihnen wurde zufriedenstellend behandelt. Das Versprechen auf eine bessere Zukunft wurde verraten.
Die russische Bourgeoisie war mit den imperialistischen Mächten des alliierten Blocks verbündet und machte es zur Priorität, einen unpopulären Krieg zu führen, der bereits Millionen von Toten gefordert hatte. Es gab enge Verbindungen zwischen eben jener Bourgeoisie und dem alten Grundbesitz; in der Praxis waren viele Bourgeois Grundbesitzer auf dem Land und umgekehrt. Die kühnen Forderungen der Arbeiterklasse nach kürzeren Arbeitszeiten, besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen, sozialer Absicherung und Bildung gefährdeten die Profitraten der Kapitalisten, die eben noch durch das unheimlich lukrative Geschäft des Krieges nach oben geschnellt waren.
Das waren die Umstände, in denen die Politik der Versöhnung und Zusammenarbeit zwischen den Klassen geschah. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre opferten, um der Aussöhnung und Verständigung mit der russischen Bourgeoisie willen, alle ihre „sozialistischen“ Prinzipien. Was bedeutete das? Erstens, die Bauern in Reden und Parlamentsdebatten zu umgarnen und gleichzeitig auf die Agrarreform zu verzichten und die Latifundien (von abhängigen Bauern bewirtschafteter, privater Großgrundbesitz, Anm. d. Ü.) zu verteidigen und zu erhalten; Zweitens, den Wunsch der Soldaten auf Frieden zu verraten und den Krieg bis zum „Endsieg“ fortzuführen; Drittens, die Forderungen der Arbeiter zurückzuweisen, weil sie den „zukünftigen Wohlstand“ (also ihre Profite) bedrohen würden; und Viertens, die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechtes für die Nationalitäten und Völker, die zuvor vom Zarismus unterdrückt wurden. Die Regierungen, die vom Februar an bis zum Oktober aufeinander folgten, erfüllten keines ihrer hehren Versprechen, was sie aber nicht davon abhielt, von einer erschöpften und ausgehungerten Bevölkerung ein Opfer nach dem anderen zu fordern.
Entgegen gesetzt zu diesem Block, der stetig versuchte, die aus der Revolution hervorgegangene revolutionäre Kraft zu ersticken, erhob sich eine Partei, die anfangs noch in der Minderheit war, sich aber unermüdlich daran machte, diese Politik anzuprangern. Die bolschewistische Partei deckte, unter der Führung Lenins, die betrügerische Basis der regierenden Volksfront auf und vertrat dabei stets die Interessen der Arbeiterklasse. Noch aus dem Exil telegrafierte Lenin seinen Genossen am 6. März 1917: „Unsere Taktik: Kein Vertrauen und keine Unterstützung für die neue Regierung (…) Die Bewaffnung des Proletariats ist unsere einzige Garantie.“ Und nachdem er im April auf russischen Boden zurückgekehrt war, erklärte er bei seiner Ankunft am finnischen Bahnhof in Petrograd: „Der Tag ist nicht mehr fern, an dem die Völker als Antwort auf unseren Genossen Karl Liebknecht ihre Waffen gegen ihre Ausbeuter richten werden (…) Die russische Revolution (…) hat eine neue Ära begonnen. Lang lebe die sozialistische Revolution.“
Die Frage des Bewusstseins
Während der Februarrevolution hatten das Proletariat und die Soldaten (überwiegend Bauern in Uniform) durch die Sowjets ein Organ der Arbeitermacht im embryonalen Stadium aufgebaut, die die Herrschaft der alten zaristischen Institutionen in Frage stellte. Die reformistischen Parteien ordneten diese Macht der Bourgeoisie als die Zeit reif war unter, als notwendigen Schritt zur Unterdrückung der Arbeiterklasse.
Genau diese Politik beschleunigte die Radikalisierung und das Misstrauen breiter Schichten der Arbeiter und Bauern. Das Gift der Täuschung, dass die Menschwiki und Sozialrevolutionäre in ihren bombastischen Reden zu verbreiten suchten, konnte die Zustände immer weniger verbergen: dieselbe alte Ausbeutung, dieselbe alte Plünderung, die von der russischen herrschenden Klasse seit Jahrhunderten praktiziert wurde.
Der Verlauf von Revolutionen folgt keinem geraden oder vorgezeichneten Kurs, er ist viel eigenwilliger und widersprüchlicher, als so manche Doktrinäre glauben. Revolution und Konterrevolution unterliegen eigenen Gesetzen, die früher oder später ihre volle Wirkung entfalten. Trotzki erklärte es im Prolog seiner berühmten „Geschichte der Russischen Revolution“:
„Der unbestreitbarste Charakterzug der Revolution ist die direkte Einmischung der Massen in die historischen Ereignisse. In gewöhnlichen Zeitläufen erhebt sich der Staat, der monarchistische wie der demokratische, über die Nation; Geschichte vollziehen die Fachmänner dieses Handwerks: Monarchen, Minister, Bürokraten, Parlamentarier, Journalisten. Aber an jenen Wendepunkten, wo die alte Ordnung den Massen unerträglich wird, durchbrechen diese die Barrieren, die sie vom politischen Schauplatz trennen, überrennen ihre traditionellen Vertreter und schaffen durch ihre Einmischung die Ausgangsposition für ein neues Regime. Ob dies gut oder schlecht, wollen wir dem Urteil der Moralisten überlassen. Wir selbst nehmen die Tatsachen, wie sie durch den objektiven Gang der Entwicklung gegeben sind. Die Geschichte der Revolution ist für uns vor allem die Geschichte des gewaltsamen Einbruchs der Massen in das Gebiet der Bestimmung über ihre eigenen Geschicke.
Schnelle Veränderungen von Ansichten und Stimmungen der Massen in der revolutionären Epoche ergeben sich folglich nicht aus der Elastizität und Beweglichkeit der menschlichen Psyche, sondern im Gegenteil aus deren tiefem Konservativismus. Das chronische Zurückbleiben der Ideen und Beziehungen hinter den neuen objektiven Bedingungen, bis zu dem Moment, wo die letzteren in Form einer Katastrophe über die Menschen hereinbrechen, erzeugt eben in der Revolutionsperiode die sprunghafte Bewegung der Ideen und Leidenschaften, die den Polizeiköpfen als einfache Folge der Tätigkeit von „Demagogen“ erscheint. Die Massen gehen in die Revolution nicht mit einem fertigen Plan der gesellschaftlichen Neuordnung hinein, sondern mit dem scharfen Gefühl der Unmöglichkeit, die alte Gesellschaft länger zu dulden.“[4] (Die Kursivsetzung wurde durch den Autor vorgenommen).
Das Bewusstsein der Massen spiegelt niemals automatisch die Reife der objektiven Bedingungen wider. In jeder Klassengesellschaft haben die Ideen der herrschenden Klasse, die zur Rechtfertigung des Status quo mit konservativen Vorurteilen vollgestopft sind, einen entscheidenden Einfluss auf die Weltanschauung der Unterdrückten. Die Bourgeoisie genießt eine ideologische und kulturelle Vorherrschaft, die sich aus ihrer Herrschaft über die sozialen Beziehungen, die Produktion und den Staat ergibt. Das Kleinbürgertum spielt eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung dieser Werte und Ideen.
Aus diesem Grund leiden die Massen in der Revolution unter dem Druck der Vergangenheit. Ihr Bewusstsein kann nur durch große und schmerzhafte Erfahrungen auf eine Ebene mit dem Lauf der Ereignisse gebracht werden. „Die revolutionäre Situation besteht auf politischer Ebene eben darin“ schreibt Trotzki, „daß alle Gruppierungen und Schichten des Proletariats, zumindest ihre erdrückende Mehrheit, vom Streben nach Vereinigung ihrer Anstrengungen zum Wechsel des bestehenden Regimes erfaßt werden. Das bedeutet indes nicht, daß sie alle begreifen, wie das zu machen ist, und noch weniger, daß sie alle bereit sind, heute schon mit ihren Parteien zu brechen und in die Reihen des Kommunismus überzugehen. Nein, so planmäßig und gesetzmäßig reift das politische Bewußtsein der Klasse nicht, tiefe innere Unterschiede bleiben auch während der revolutionären Epoche bestehen, wo sich alle Prozesse sprunghaft vollziehen.“[5]
Der subjektive Faktor wird zum entscheidenden objektiven Element der Revolution. Am Beispiel der Russischen Revolution schreibt Trotzki:
„Von der für die Umwälzung notwendigen Zuversicht zu seinen Kräften kann das Proletariat nur erfüllt sein, wenn sich vor ihm eine klare Perspektive entrollt, wenn es die Möglichkeit besitzt, aktiv das sich zu seinen Gunsten verändernde Kräfteverhältnis nachzuprüfen, wenn es über sich eine weitblickende, feste und sichere Leitung fühlt. Das führt uns zu der – der Reihe, nicht aber der Bedeutung nach – letzten Bedingung der Machteroberung: zur revolutionären Partei, als der eng verschmolzenen und gestählten Avantgarde der Klasse. (…)
Die Bolschewiki waren keine Kiebitze, keine Schreibtischfreunde des Volkes, keine Pedanten. Sie fürchteten sich nicht vor jenen rückständigen Schichten, die zum ersten Male vom tiefsten Grunde emporstiegen. Die Bolschewiki nahmen das Volk so, wie es die vorangegangene Geschichte geschaffen hatte und wie es berufen war, die Revolution zu vollbringen. Ihre Mission erblickten die Bolschewiki darin, sich an die Spitze dieses Volkes zu stellen. (…)
Im allgemeinen erwies sich nach dem Zeugnis der Geschichte – Pariser Kommune, deutsche und österreichische Revolution von 1918, Sowjetungarn und Bayern, italienische Revolution von 1919, deutsche Krise von 1923, chinesische Revolution von 1925 bis 1927, spanische Revolution von 1931 – als das schwächste Glied in der Kette der Bedingungen bis jetzt das Parteiglied: für die Arbeiterklasse ist es am schwierigsten, eine revolutionäre, auf der Höhe ihrer historischen Aufgabe stehende Organisation zu schaffen.“[6]
Trotzki und Lenin hofften nicht auf ein wundersames „sozialistisches Bewusstsein“ der Massen. Die großen Marxisten verstanden die Revolution als eine strategische Aufgabe, bei der die Partei die entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Bewusstseins der Arbeiterklasse und der Unterdrückten spielt, indem sie die praktischen Erfahrungen hin zur Notwendigkeit der Machtergreifung verallgemeinert:
„Die zeitweilige Macht der Sozialpatrioten und die verhüllte Schwäche des opportunistischen Flügels der Bolschewiki bestanden darin“ schreibt Trotzki, „daß die ersteren sich auf die damaligen Vorurteile und Illusionen der Massen stützten und die anderen sich ihnen anpaßten. Die Hauptstärke Lenins war, daß er die innere Logik der Bewegung begriff und danach seine Politik richtete. Er zwang den Massen seinen Plan nicht auf. Er half den Massen, ihren eigenen Plan zu erkennen und zu verwirklichen. Als Lenin alle Probleme der Revolution auf das eine Problem zurückführte: ‚Geduldig aufklären‘, hieß dies, das Bewußtsein der Massen mit jener Situation in Übereinstimmung zu bringen, in die der historische Prozeß sie hineingetrieben hatte“[7]
Lenin stützte sich auf die lebendige Erfahrung der Ereignisse, um die Theorie und die Aufgaben der Bewegung zu aktualisieren. Er kämpfte gegen all jene, die die revolutionäre Bewegung auf die Grenzen der sogenannten „demokratischen Republik“ beschränken wollten, eine demagogische Illusion, hinter der die Macht der Kapitalisten, der Grundbesitzer und des Generalstabs stand. Die von Lenin aufgeworfene Frage war schlicht: Wie kann man die Aufteilung des Landes an die Bauern, Frieden ohne Annexion, Freiheit für alle unterdrückten Völker und Fortschritt für die Arbeiterklasse verwirklichen? Obwohl man davon hätte ausgehen können, dass diese Forderungen die bürgerlich-demokratische Grenze nicht überschritten, bestand Lenin zu Recht darauf, dass sie erst dann erfüllt werden können, wenn die Arbeiterklasse im Bündnis mit den Bauern und Soldaten an die Macht käme und die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft einleite. Lenins Programm sollte zum Programm der bolschewistischen Partei und der Oktoberrevolution werden.
Die marxistische Theorie der permanenten Revolution
Marx und Engels erklärten, dass die objektiven Bedingungen für den Sozialismus in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern reif seien. Aber die Art und Weise, wie diese Idee immer wieder verzerrt wurde, um die Revolution in den rückständigen Ländern für unmöglich zu erklären, erkennt nicht den Hauptgedanken dahinter: Der Sozialismus benötigt einen hohen Entwicklungsgrad der Produktivkräfte. Marx und Engels haben nie behauptet, dass die Arbeiterklasse davon Abstand nehmen sollte, die Macht in den schwächeren kapitalistischeren Ländern zu erobern oder gar, dass sie sich der Bourgeoisie unterordnen sollte.
Diese Frage war sowohl theoretisch als auch praktisch nach der revolutionären Erfahrung von 1848 aufgeworfen worden, die wichtige Lehren lieferte und die Haltung zu Bourgeoisie verdeutlichte. Marx und Engels erklärten es so:
„Die deutsche Bourgeoisie hatte sich so träg, feig und langsam entwickelt, dass im Augenblicke, wo sie gefahrdrohend dem Feudalismus und Absolutismus gegenüberstand, sie selbst sich gefahrdrohend gegenüber das Proletariat erblickte und alle Fraktionen des Bürgertums, deren Interessen und Ideen dem Proletariat verwandt sind. Und nicht nur eine Klasse hinter sich, ganz Europa sah sie feindlich vor sich. Die preußische Bourgeoisie war nicht, wie die französische von 1789, die Klasse, welche die ganze moderne Gesellschaft den Repräsentanten der alten Gesellschaft, dem König und dem Adel gegenüber vertrat. Sie war zu einer Art von Stand herabgesunken, ebenso ausgeprägt gegen die Krone als gegen das Volk, oppositionslustig gegen beide, unentschlossen gegen jeden ihrer Gegner einzeln genommen, weil sie immer beide vor oder hinter sich sah; von vornherein zum Verrat gegen das Volk und zum Kompromiss mit dem gekrönten Vertreter der alten Gesellschaft geneigt, weil sie selbst schon zur alten Gesellschaft gehörte“[8]
Marx und Engels widerlegten, dass die Bourgeoisie einen konsequenten Kampf für demokratische Forderungen führen könnte und kamen zu dieser Schlussfolgerung. Und das bereits Mitte des 19. Jahrhunderts! Sie bestanden auf ihrer Position und machten die proletarische Avantgarde auf die Notwendigkeit aufmerksam, für ihre eigene Klasse zu kämpfen und sich vom (Klein-)Bürgertum unabhängig zu machen:
„Die demokratischen Kleinbürger, weit entfernt, für die revolutionären Proletarier die ganze Gesellschaft umwälzen zu wollen, erstreben eine Änderung der gesellschaftlichen Zustände, wodurch ihnen die bestehende Gesellschaft möglichst erträglich und bequem gemacht wird. [...]Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch und unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere <248> Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und daß wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind. Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen.“[9]
Seitdem hat der Kampf zwischen Reformismus und Revolution, zwischen einer unabhängigen Klassenposition und Klassenkollaboration mit der Bourgeoisie die europäische und russische Sozialdemokratie polarisiert und gespalten.
Vor dem Hintergrund der Ereignisse von 1905, als in St. Petersburg und Moskau die Revolution ausbrach, nahm die Polemik eine neue Perspektive ein. Damals war eine Mehrheit der Führer der Zweiten Internationale, einschließlich der russischen, der Ansicht, dass Russland eine nationale bürgerliche Revolution brauche, um ein modernes kapitalistisches Land zu werden und die Überreste des Feudalismus zu zerschlagen. Daraus leiteten sie eine Menge ab: Das Proletariat sollte sich darauf beschränken, als Helfer der liberalen Bourgeoisie zu fungieren, ohne den Rahmen der bürgerlich-demokratischen Forderungen zu sprengen und erst nach einer längeren (und unbestimmten) Periode kapitalistischer Entwicklung würde die Arbeiterklasse genügend Kräfte sammeln, um die Veränderung der Gesellschaft mit Hilfe des Parlamentarismus einzuleiten. Kurz gesagt: die Revolution wurde als eine Abfolge von Phasen gesehen; zuerst eine bürgerlich-demokratische und dann eine sozialistische Phase.
Diese mechanische und antidialektische Idee einer Revolution in „Etappen“, die die Verteidigung der bürgerlichen Ordnung zu einem strategischen Ziel machte, diente den meisten Führer der Zweiten Internationale bei ihrer Kapitulation vor den nationalen Bourgeoisien 1914 als theoretisches Alibi. Rosa Luxemburg, Lenin und Trotzki rebellierten gegen diese Verzerrung der Grundlagen des Sozialismus. Dieser Kampf gegen den Revisionismus wurde unter anderem über die Natur und den Charakter des Staates und der Demokratie, über den Parlamentarismus und Reformismus, über die Gewerkschaftsfrage und die Rolle der Partei, über die Bündnispolitik und den Imperialismus und seine Krisen geführt.
Im Falle Russlands war der zaristische Absolutismus spät in die kapitalistische Weltwirtschaft eingegliedert worden und litt unter einer starken Abhängigkeit von ausländischen Finanzen, insbesondere von französischen und englischen. Die wirtschaftliche und soziale Struktur des Landes war vom Fortbestand halbfeudaler Beziehungen geprägt: Obwohl die Leibeigenschaft 1861 abgeschafft worden war, erlebte das Reich eine Konzentration der Macht in den Händen einer Oligarchie aus adligen und bürgerlichen Grundbesitzern. Millionen von enteigneten Bauern führten ein elendes Leben im Dorf und kleine Landbesitzer und Pächter überlebten nur unter enormen Entbehrungen.
Die Rückständigkeit des ländlichen Raums war den großen Fabriken und Industrien der städtischen Zentren gegenübergestellt. Kurz gesagt, Russland machte, wie andere Länder mit ähnlichen Merkmalen (z.B. Spanien zu Beginn des 20. Jahrhunderts) eine ungleiche und kombinierte Entwicklung durch. Rückständigkeit in den ländlichen Bezirken unter der Macht des alten Adels, als Gutsbesitzer mit der neuen Bourgeoisie verschmolzen, und eine energische Entwicklung der kapitalistischen Industrie in den Städten, die eine neue Arbeiterklasse hervorbrachte, die schließlich mit Entschlossenheit die historische Bühne betrat.
Die liberale Bourgeoisie hatte zwar nicht das Machtmonopol des russischen Staates in ihren Händen – der unter der Kontrolle des Zaren und des Adels war –, bildete mit diesem aber einen wirtschaftlichen Block und genoss dessen Schutz. Bei allen Gelegenheiten, bei denen die Bedingungen für einen Kampf gegen den Zarismus günstig waren, entschied sich die Bourgeoisie dafür, stattdessen die revolutionäre Arbeiterklasse zu bekämpfen. Ihr Verständnis von Demokratie endete dort, wo ihr Einkommen und ihre Privilegien begannen.
Als Antwort auf diese reformistischen Positionen zeigten die russischen Marxisten, dass die Bourgeoisie aufgrund ihrer Schwäche und Abhängigkeit vom imperialistischen Kapital nicht in der Lage war, die Aufgaben ihrer eigenen Revolution zu erfüllen: Landreform, industrielle Entwicklung und ein Ende der nationalen Unterdrückung. Es war nicht die Bourgeoisie, sondern die die Nation führende Arbeiterklasse und die Massen der armen Bauern, die die Lösung dieser Probleme in den Händen hielt. Leo Trotzki fasste es in seiner Theorie der permanenten Revolution so zusammen:
„Der Begriff der permanenten Revolution ist aufgestellt worden von den großen Kommunisten der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, von Marx und dessen Gesinnungsgenossen als Gegensatz zu jener demokratischen Ideologie, die bekanntlich darauf pocht, daß alle Fragen friedlich, auf reformistischem oder evolutionärem Wege gelöst werden könnten durch Errichtung des „vernünftigen“ oder demokratischen Staates. Die bürgerliche Revolution von 48 betrachtete Marx als die unmittelbare Einleitung zur proletarischen Revolution. Marx „irrte“. Doch sein Irrtum hatte einen faktischen, keinen methodologischen Charakter. [...]
Der vulgäre „Marxismus“ hat ein Schema der historischen Entwicklung ausgearbeitet, wonach jede bürgerliche Gesellschaft sich früher oder später ein demokratisches Regime sichere und danach dann das Proletariat unter den Bedingungen der Demokratie allmählich für den Sozialismus organisiere und erziehe. Von dem Übergang zum Sozialismus selbst hatte man sich verschiedene Vorstellungen gemacht: die offenen Reformisten dachten sich diesen Übergang als reformistische Anfüllung der Demokratie mit sozialistischem Inhalt (Jaurès). Die formalen Revolutionäre anerkannten die Unvermeidlichkeit der Anwendung der revolutionären Gewalt beim Übergang zum Sozialismus (Guesde). Aber die einen wie die anderen betrachteten Demokratie und Sozialismus in bezug auf alle Völker und Länder als zwei nicht nur durchaus getrennte, sondern auch voneinander weit entfernt liegende Etappen in der Entwicklung der Gesellschaft. [...]
Diesen Ideen und Stimmungen erklärte die im Jahre 1905 neu erwachte Theorie der permanenten Revolution den Krieg. Sie zeigte, daß die demokratischen Aufgaben der zurückgebliebenen bürgerlichen Nationen in unserer Epoche zur Diktatur des Proletariats führen und daß die Diktatur des Proletariats die sozialistischen Aufgaben auf die Tagesordnung stellt. Darin bestand die zentrale Idee der Theorie. Lautete die traditionelle Meinung, daß der Weg zur Diktatur des Proletariats über eine lange Periode der Demokratie führe, so stellte die Theorie der permanenten Revolution fest, daß für die zurückgebliebenen Länder der Weg zur Demokratie über die Diktatur des Proletariats gehe. [...]
Der zweite Aspekt der „permanenten“ Theorie charakterisiert bereits die sozialistische Revolution als solche. Während einer unbestimmt langen Zeit und im ständigen inneren Kampfe werden alle sozialen Beziehungen umgestaltet. Die Gesellschaft mausert sich. Eine Wandlungsetappe ergibt sich aus der anderen. [...]
Der internationale Charakter der sozialistischen Revolution, der den dritten Aspekt der Theorie der permanenten Revolution bildet, ergibt sich aus dem heutigen Zustande der Ökonomik und der sozialen Struktur der Menschheit. Der Internationalismus ist kein abstraktes Prinzip, sondern ein theoretisches und politisches Abbild des Charakters der Weltwirtschaft, der Weltentwicklung der Produktivkräfte und des Weltmaßstabes des Klassenkampfes. Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden. Sie kann aber nicht auf diesem Boden vollendet werden. [...]
Von diesem Standpunkte aus gesehen, ist eine nationale Revolution kein in sich selbst verankertes Ganzes: sie ist nur ein Glied einer internationalen Kette. Die internationale Revolution stellt einen permanenten Prozeß dar, trotz aller zeitlichen Auf- und Abstiege.“[10]
Rosa Luxemburg, die direkt an den revolutionären Kämpfen von 1905 in der Stadt Warschau beteiligt war, positionierte sich mit Lenin und Trotzki in dieser Debatte und präsentierte ihre Schlussfolgerungen in Büchern und auf Kongressen. Es lohnt sich, sie zu zitieren, weil ihre Sympathie für die Theorie der „permanenten Revolution“ keinen Raum für Zweifel lässt:
Die russische Revolution hat zur nächsten Aufgabe die Beseitigung des Absolutismus und die Herstellung eines modernen bürgerlich-parlamentarischen Rechtsstaates. Formal ist es genau dieselbe Aufgabe, die in Deutschland der Märzrevolution, in Frankreich der großen Revolution am Ausgang des 18. Jahrhunderts bevorstand. Allein die Verhältnisse, das geschichtliche Milieu, in dem diese formal analogen Revolutionen stattfanden, sind grundverschieden von den heutigen Rußlands. Das Entscheidende ist der Umstand, daß zwischen jenen bürgerlichen Revolutionen des Westens und der heutigen bürgerlichen Revolution im Osten der ganze Zyklus der kapitalistischen Entwicklung abgelaufen ist. Und zwar hatte diese Entwicklung nicht bloß die westeuropäischen Länder, sondern auch das absolutistische Rußland ergriffen. Die Großindustrie mit allen ihren Konsequenzen, der modernen Klassenscheidung, den schroffen sozialen Kontrasten, dem modernen Großstadtleben und dem modernen Proletariat, ist in Rußland die herrschende, d. h. in der sozialen Entwicklung ausschlaggebende Produktionsform geworden. [...] Daraus hat sich aber die merkwürdige, widerspruchsvolle geschichtliche Situation ergeben, daß die nach ihren formalen Aufgaben bürgerliche Revolution in erster Reihe von einem modernen, klassenbewußten Proletariat ausgeführt wird und in einem internationalen Milieu, das im Zeichen des Verfalls der bürgerlichen Demokratie steht. Nicht die Bourgeoisie ist jetzt das führende, revolutionäre Element, wie in den früheren Revolutionen des Westens, während die proletarische Masse, aufgelöst im Kleinbürgertum, der Bourgeoisie Heerbanndienste leistet, sondern umgekehrt, das klassenbewußte Proletariat ist das führende und treibende Element [...] Das russische Proletariat aber, das dermaßen zur führenden Rolle in der bürgerlichen Revolution bestimmt ist, tritt, selbst frei von allen Illusionen der bürgerlichen Demokratie, dafür mit einem stark entwickelten Bewußtsein der eigenen spezifischen Klasseninteressen bei einem scharf zugespitzten Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit in den Kampf. Dieses widerspruchsvolle Verhältnis findet seinen Ausdruck in der Tatsache, daß in dieser formal bürgerlichen Revolution der Gegensatz der bürgerlichen Gesellschaft zum Absolutismus von dem Gegensatz des Proletariats zur bürgerlichen Gesellschaft beherrscht wird, daß der Kampf des Proletariats sich mit gleicher Kraft gleichzeitig gegen den Absolutismus und gegen die kapitalistische Ausbeutung richtet [...].“[11]
Die vom Stalinismus konstruierte Legende spricht von Lenins „Ablehnung“ der Theorie der permanenten Revolution. Wie bei so vielen anderen Fälschungen verteidigte Lenin, auch wenn er den Begriff nicht konkret verwendete, einen Ansatz, der dem Trotzkis sehr ähnlich war. In seinem gigantischen Werk über die bolschewistische Revolution bezieht sich E.H. Carr auf diese wichtige Frage:
„Obwohl sich der Streit zwischen Bolschewiki und Menschewiki um abstrakte Fragen der marxistischen Doktrin zu drehen schien, warf er in Wirklichkeit grundlegende Fragen für die russische Revolution auf. Als die Menschewiki an der vulgärmarxistischen Vorstellung festhielten, nach der die bürgerlich-demokratische Revolution der sozialistisch-proletarischen Revolution vorausgehen sollte, konnten sie auch niemals die bereits 1898 von Lenin aufgestellte Hypothese von der Existenz einer unauflösbaren Verbindung zwischen beiden anerkennen [...] Für Lenin waren die beiden Phasen Teil einer Art von kontinuierlichem Prozess.“[12]
In einem in der Hitze der Revolution von 1905 verfassten Text mit dem Titel „Das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Bauernbewegung“ drückt Lenin den von Carr dargelegten Gedanken präzise aus:
„[D]enn wir werden sofort nach der demokratischen Revolution, und zwar in dem Maße unserer Kraft, der Kraft des klassenbewussten und organisierten Proletariats, den Übergang zur sozialistischen Revolution in Angriff nehmen. Wir sind für die permanente Revolution. Wir werden nicht auf halbem Wege stehen bleiben. [...] wir werden aus allen Kräften der gesamten Bauernschaft helfen, die demokratische Revolution durchzuführen, damit wir, die Partei des Proletariats, es dann um so leichter haben, möglichst schnell an die neue und höhere Aufgabe, die sozialistische Revolution, heranzugehen.“[13]
Lenin verteidigte eine konkrete Formulierung über die Art von Regime, die sich aus einer demokratischen Revolution in Russland ergibt: „die revolutionäre demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern“. Dies war ein Ansatz, der das Bündnis zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft für den revolutionären Sieg betonte. Doch der Lauf der Ereignisse überzeugte Lenin, dass diese Formel völlig überholt war. Die demokratische Revolution nach Februar 1917 war so weit gegangen, wie man es erwarten konnte, und das Ergebnis war die Bildung einer Koalitionsregierung zwischen der Bourgeoisie und den versöhnlichen sozialistischen, revolutionären sozialistischen und menschewistischen Parteien.
Lenins Aprilthesen: Der Weg zum Sieg
Ohne die Führung Lenins, der noch immer in seinem Schweizer Exil isoliert war, wurde die bolschewistische Organisation in Russland zerstreut, mit vielen ihrer Aktivisten in den Schützengräben, und ihre Truppen in Petrograd, Moskau und anderen Städten handelten entschlossen im Straßenkampf, aber ohne ein fertiges Programm oder eine fertige Taktik; ohne klare Parolen.
Das Bolschewistische Komitee in Petrograd mit Molotow an der Spitze wurde von den Revolutionstagen im Februar völlig überrascht und gab kaum Orientierungshilfen. Die Ankunft von Stalin und Kamenew, die die Führung der Partei in der Hauptstadt übernahmen, brachte die Dinge nicht in Ordnung; sie verdrängten die bisherige Führung durch „Linke“ und gaben der Zeitung der Partei, der Prawda, die versöhnlerische Tendenz, sich darauf zu beschränken, das von Menschewiki und Sozialrevolutionären dominierte Exekutivkomitee der Sowjets zu unterstützen.
Ungeduldig gegenüber dem Verlauf der Ereignisse und der Haltung der Partei, schickte Lenin im März zahlreiche Telegramme an Exilanten, die nach Russland zurückkehrten, und mehrere Briefe an die Redaktion der Prawda, in denen er die vollständige Opposition gegen die provisorische Regierung forderte. Sein Telegramm vom 6. enthüllt seine Besorgnis: „Unsere Taktik vollständiges Mißtrauen; keine Unterstützung der neuen Regierung; Kerenski besonders verdächtig; Bewaffnung des Proletariats die einzige Garantie; [...] keine Annäherung zu andern Parteien [...]“[14]
Von den vier Briefen aus der Ferne, die Lenin an die Prawda schickte, veröffentlichten Stalin und Kamenew nur den ersten, verstümmelt; die anderen drei wurden völlig zensiert und in einer Schublade aufbewahrt; sie sollten erst 1924 nach seinem Tod veröffentlicht werden. Lenin bereitete ohne das geringste Zögern seine Rache gegen den Versöhnungsgedanken und die Klassenzusammenarbeit vor, aber seine Vorschläge wurden von Stalin und Kamenew als unzulässig erachtet. Am 27. März schrieb Stalin in der Prawda: „Die provisorische Regierung hat in der Tat die Aufgabe übernommen, die Errungenschaften des revolutionären Volkes zu festigen. Der Sowjet mobilisiert Kräfte, kontrolliert die provisorische Regierung, die strauchelnd und kämpfend die Aufgabe übernimmt, die Eroberungen des Volkes zu konsolidieren, die dieses bereits erreicht hat.“[15]
Aber Lenin hatte bereits die Diagnose über das Wesen dieser Regierung gestellt, die Stalin für nötig hielt, um die Eroberungen des Volkes zu konsolidieren: „Nur der Vertreter des englisch-französischen Finanzunternehmens [...] ist es, der behauptet, dass die Arbeiter die neue Regierung unterstützen müssen, um die zaristische Reaktion zu bekämpfen [...] verrät die Arbeiter, verrät die Sache des Proletariats, die Sache des Friedens und der Freiheit...“.[16]
Erst die Rückkehr Lenins änderte jedoch die Verhältnisse in der Bolschewistischen Partei von Grund auf. Sofort nach seiner Ankunft machte er seinen Widerstand gegen die Linie der Prawda deutlich und legte seine Aprilthesen vor. Lenin war in seiner Kritik unerbittlich: „Selbst unsere Bolschewiki zeigen Vertrauen in die Regierung. Dies kann nur durch den Rausch der Revolution erklärt werden. Es ist der Ruin des Sozialismus [...] Wenn das so ist, werden wir andere Wege gehen müssen, auch wenn ich in der Minderheit bleiben muss.“
Während er Kamenew und Stalin wegen ihrer Positionen und Erklärungen zugunsten einer Vereinigung mit den Menschewiki kritisierte, die bei mehreren gemeinsamen Treffen von Militanten beider Parteien abgegeben wurden, wies Lenin darauf hin: „Die Prawda fordert von der Regierung, sie solle auf Annexionen verzichten. Von einer Regierung der Kapitalisten verlangen, sie soll auf Annexionen verzichten – ist Unsinn, schreiender Hohn... [...] Ich höre, daß in Rußland eine Vereinigungstendenz besteht [...] eine Vereinigung mit den [sozialpatriotischen, Anm.d.Ü.] Landesverteidigern, – das ist Verrat am Sozialismus. Ich glaube, es ist besser, allein zu bleiben, wie Liebknecht, Einer gegen 116!“[17]
Auf der allrussischen Konferenz der Bolschewiki in Petrograd Ende April gelang es Lenin, sowohl seinen Ansatz, die provisorische Regierung nicht zu unterstützen, als auch die wesentlichen Punkte seiner Aprilthesen durchzusetzen. Obwohl das Misstrauen vieler Führer, der so genannten „alten Bolschewiki“, fortbestand, errang Lenin den Sieg dank der Parteifunktionäre, die in seiner Politik die Antwort auf ihre Intuitionen und Ängste sahen und eine Anleitung, ihre Sehnsüchte nach einer Revolution nach der bitteren Erfahrung mit der Bourgeoisie und den Sozialpatrioten auf positive Weise zu lösen.
Trotzki analysierte die beschriebenen Vorgänge wie folgt:
„Gegen die alten Bolschewiki fand Lenin in einer anderen, bereits gestählten, aber frischeren und mehr mit den Massen verbundenen Parteischicht eine Stütze. In der Februarrevolution hatten die bolschewistischen Arbeiter, wie wir wissen, die entscheidende Rolle gespielt. Sie betrachteten es als selbstverständlich, daß jene Klasse die Macht übernehmen müsse, die den Sieg errungen hatte. Diese Arbeiter hatten stürmisch gegen den Kurs Kamenjew-Stalin protestiert und der Wyborger Bezirk sogar mit dem Ausschluß der „Führer“ aus der Partei gedroht. Das gleiche war in der Provinz zu beobachten. Fast überall gab es linke Bolschewiki, die man des Maximalismus und sogar des Anarchismus beschuldigte. Den revolutionären Arbeitern fehlten nur die theoretischen Mittel, um ihre Positionen zu verteidigen. Doch waren sie bereit, den ersten Zuruf mit Widerhall zu beantworten.
Nach dieser Arbeiterschicht, die während des Aufschwungs der Jahre 1912-1914 sich endgültig hochgerichtet hatte, orientierte sich Lenin. Schon zu Beginn des Krieges, als die Regierung durch die Zerschlagung der bolschewistischen Dumafraktion der Partei einen schweren Hieb zugefügt hatte, verwies Lenin, über die fernere revolutionäre Arbeit sprechend, auf die von der Partei erzogenen „Tausende klassenbewußte Arbeiter, aus denen, allen Schwierigkeiten zum Trotz, ein neues Führerkollektiv entstehen wird“.
Durch zwei Fronten von ihnen getrennt, fast ohne Verbindung, riß sich Lenin von ihnen doch niemals los. „Mag sie Krieg, Gefängnis, Sibirien, Katorga fünffach, zehnfach zerschlagen. Diese Schicht zu vernichten, ist unmöglich. Sie lebt. Sie ist von revolutionärem Geist und Antichauvinismus durchdrungen.“ In Gedanken erlebte Lenin die Ereignisse gemeinsam mit diesen Arbeiterbolschewiki, zog gemeinsam mit ihnen die notwendigen Schlüsse, nur breiter und kühner als sie. Zum Kampfe gegen die Unentschlossenheit des Stabes und der breiten Offiziersschicht der Partei stützte sich Lenin sich auf die Unteroffiziersschicht, die den einfachen Arbeiterbolschewiken besser widerspiegelte.“[18]
Nach Lenins Ansicht war der einzige Grund, warum das Proletariat die Macht im Februar 1917 noch nicht errungen hatte, dass das Proletariat noch nicht genügend bewusst und organisiert war. Das war richtig. Die materielle und ökonomische Stärke liegt zwar zu jeder Zeit in den Händen des Proletariats; aber die Bourgeoisie hat bewiesen, dass sie bewusster und auf mögliche Umstürze gut vorbereitet ist. Anfang des Jahres 1917 war es nötig offen und ehrlich anzuerkennen – und das auch den Massen zu sagen – dass, wenn sie die Macht nicht übernommen haben, es an ihrer Desorganisation und dem Mangel an klarem Bewusstsein in ihrem Inneren lag.
Lenin hat die Spontaneität der Massen nicht idealisiert. Die Geschichte der sozialistischen Revolutionen hat deutlich gemacht, dass das, was gemeinhin als Spontaneität bezeichnet wird und untrennbar mit dem Auftauchen der kämpfenden Massen verbunden ist, in eine bewusste Aktion umgewandelt werden muss, die darauf abzielt, die Macht zu ergreifen und die Bourgeoisie von ihrer Führungsposition in der Gesellschaft zu verdrängen. Und diese Orientierung kann nur von einer Führung ausgehen, die in der Theorie und Praxis des Klassenkampfes geschmiedet ist; die unter den gleichen politischen Voraussetzungen kohärent und nicht zersplittert in die entscheidenden Ereignisse eingreift; die es versteht, in jeder Phase die notwendigen Parolen zu vermitteln und das Bewusstsein und Verständnis der Vorhut zu erhöhen, um durch sie die Mehrheit der Unterdrückten zu gewinnen.
Im April 1917 konvergierten Trotzkis Ideen und das leninistische Programm der Revolution vollständig. Lenin legte seine inzwischen berühmten Aprilthesen bei mehreren Treffen von militanten Bolschewiki und Menschewiki vor, was unter den Aktivisten der Basis für Aufsehen sorgte und bei den Führern der Sowjetunion und vielen der so genannten „alten Bolschewiki“ erhebliche Feindseligkeiten hervorrief.
Die wesentlichen Ideen der Thesen lassen sich in den folgenden Punkten zusammenfassen:
A) Krieg ist imperialistisch, räuberisch. Es ist unmöglich, ihn zu beenden und einen demokratischen Frieden zu schaffen, ohne den Kapitalismus zu stürzen.
B) Die Aufgabe der Revolution besteht darin, die Macht in die Hände der Arbeiterklasse und der armen Bauern zu legen. Keine Unterstützung für die Provisorische Regierung. Nein zur parlamentarischen Republik, eine Rückkehr von den Sowjets in die parlamentarische Republik wäre ein Rückschritt. Für eine Republik der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernvertreter.
C) Unterdrückung der Bürokratie, der Armee und der Polizei. Allgemeine Bewaffnung des Volkes.
D) Verstaatlichung aller Ländereien und die Integration von Tagelöhnern und Bauern in die lokalen Sowjets.
E) Verstaatlichung der Banken unter der Kontrolle der Arbeiter.
F) Die russische Revolution ist ein Bindeglied in der sozialistischen Weltrevolution. Es muss unverzüglich eine neue revolutionäre Internationale aufgebaut werden, die mit der Zweiten Internationale bricht.
Nicht nur die Thesen, sondern alle Pamphlete und Schriften Lenins von Februar bis Oktober 1917 stellen eine konsequente Antwort auf die Etappentheorie und die Volksfrontstrategie der versöhnlerischen Kräfte dar. Es ist bekannt, dass Lenin die bolschewistischen Reihen energisch auf die Machtergreifung ausrichtete, indem er den sozialistischen Charakter betonte, den die russische Revolution annehmen musste. Nur durch den Bruch mit den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen und die Enteignung des Finanzkapitals, den Sturz des bürgerlichen Staates und seine Ersetzung durch einen Übergangs-Arbeiterstaat wäre es möglich, ein wirklich demokratisches Regime zu errichten.
Die Wochen vor dem Oktober bewiesen die Bedeutung des subjektiven Faktors, d.h. der Partei und ihrer Führung. Das Verständnis der revolutionären Dynamiken, die nüchterne Bewertung der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen und das Vertrauen in die arbeitenden Massen machten den Sieg möglich.
„1917 befand sich Russland in einer extremen sozialen Krise“, schrieb Trotzki, „aber die Lehren aus der Geschichte erlauben uns, mit Gewissheit zu sagen, dass, hätte es die bolschewistische Partei nicht gegeben, die kolossale revolutionäre Energie der Massen in sporadischen Explosionen vergeudet worden wäre und dass der Höhepunkt der großen Umwälzungen die schwerste konterrevolutionäre Diktatur gewesen wäre. Der Klassenkampf ist der große Motor der Geschichte. Sie braucht ein gerechtes Programm, eine feste Partei, eine mutige und vertrauenswürdige Führung; keine Helden des Saals und des Parlamentsrates, sondern Revolutionäre, die bereit sind, den ganzen Weg zu gehen. Dies ist die große Lektion der Oktoberrevolution.“[19]
Nachdem die Mehrheit der russischen Arbeiter, Soldaten und Bauern sowie die Regimenter und Kasernen in Petrograd sich aktiv für die Sowjetmacht und gegen die kapitalistische Regierung ausgesprochen und den Bolschewiki ihre Unterstützung zugesagt hatten, nachdem sie die Tortur der Julitage, die Inhaftierung ihrer wichtigsten Führer (einschließlich Trotzkis und Lenins Flucht in den Untergrund), den bewaffneten Kampf gegen General Kornilows Staatsstreich... durchlebt hatten, waren die Bedingungen für einen Aufstand reif. Mit Lenins Worten würde die Geschichte den Revolutionären nicht verzeihen, die heute gewinnen könnten aber auch riskieren, alles zu verlieren, wenn sie bis morgen warten würden.
Die endgültige Entscheidung des bolschewistischen Zentralkomitees nach wochenlangen mühsamen Diskussionen und der aktiven Opposition von Kamenew und Sinowjew war folgenschwer. Das Militärische Revolutionskomitee (MRK), ein von den Bolschewiki geschaffenes und von Trotzki geführtes militärisches Gremium mit 200.000 Soldaten, 40.000 Rotgardisten und Zehntausenden von Matrosen, wurde in Bewegung gesetzt. Am 24. Oktober (7. November nach dem damals in Russland geltenden Kalender) arbeiteten die MRK-Truppen, koordiniert vom Smolny-Institut, den ganzen Tag und die ganze Nacht und besetzten Brücken, Bahnhöfe, Kommunikationseinrichtungen, Gebäude... Vierundzwanzig Stunden später wurde der Winterpalast übernommen und die Minister der Regierungskoalition verhaftet. Am selben Tag nahm der Zweite Kongress der Sowjets mit einer Mehrheit von Bolschewiki und linken Sozialrevolutionäre die Macht in ihre Hände und gebar die erste Arbeiterregierung der Geschichte. Der proletarische Internationalismus wurde in die erste vom Kongress verabschiedete Resolution aufgenommen: ein Appell an alle Völker, die sich im Krieg befinden, für einen demokratischen Frieden ohne Annexionen zu kämpfen.
Der Sieg der Bolschewiki erschütterte die kapitalistische Welt. Seitdem hat die Propagandamaschinerie der Bourgeoisie alle ihre Mittel eingesetzt, um die Oktoberrevolution zu diskreditieren. Aus dem Berg von Verleumdungen und Fehldarstellungen, der sich über ein Jahrhundert lang ergoss, hat der hartnäckigste und am weitesten verbreitete den sowjetischen Oktober in einen Staatsstreich verwandelt, der angeblich ein blühendes, demokratisches und parlamentarisches Regimes zerschlug. Doch die Dynamik der Ereignisse von 1917 war eine ganz andere: Hätten die Bolschewiki nicht die Macht übernommen, wäre keine parlamentarische Demokratie entstanden, sondern eine bonapartistische Militärdiktatur im Stile dessen, was Kornilow beabsichtigte, ein Regime des Grauens und der Unterdrückung, das noch blutiger war als der Zarismus.
Unablässig wird versucht, die Oktoberrevolution als eine Orgie von Blut und Gewalt zu stigmatisieren, eine weitere Verzerrung, die der Wahrheit absolut widerspricht. Der Aufstand in Petrograd, der revolutionären Hauptstadt, wurde im Wesentlichen friedlich und demokratisch geführt: Die überwältigende Mehrheit der in der Sowjetunion vertretenen Arbeiterklasse, Bauern und Soldaten, unterstützte die Bolschewiki und ihr Programm von „Frieden, Brot und Land“ und „Alle Macht den Sowjets“. Der Massencharakter dieser Revolution wurde von der großen Mehrheit derjenigen bestätigt, die Zeuge dieser Ereignisse waren, einschließlich derjenigen, die ihre Ziele nicht teilten, aber nicht vom Klassenhass getrübt waren. Natürlich setzte die bewaffnete Antwort der Konterrevolution von dem Moment an ein, als die Revolution erfolgreich war. Es gab keinen Aufschub für die Sowjetmacht, die von den imperialistischen Mächten und ihren russischen Lakaien mit Blut und Feuer bekämpft wurde.
Die Bolschewiki hatten keine Zweifel an der politischen Grundlage, auf der die neue revolutionäre Ordnung aufgebaut werden musste. Entweder stützte sich die Revolution auf die bewusste und demokratische Beteiligung der Massen an der Entscheidungsfindung und an der Kontrolle und Verwaltung der neuen Gesellschaft, die aufgebaut werden sollte, oder sie wäre zum Scheitern verurteilt. Im Dezember 1917 wies Lenin darauf hin:
„Eine der wichtigsten, wenn nicht sogar die wichtigste Aufgabe der gegenwärtigen Stunde ist es, diese freie Initiative der Arbeiter und aller Werktätigen und allgemein ausgebeuteten Werktätigen in ihrer schöpferischen Organisationsarbeit in vollem Umfang zu entwickeln. Das alte absurde, wilde, berüchtigte und hasserfüllte Vorurteil, dass nur die so genannten „Oberschichten“, nur die Reichen oder diejenigen, die von den reichen Klassen erzogen wurden, den Staat verwalten, die organische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft lenken können, muss um jeden Preis ausgeräumt werden.“[20]
Der III. Allrussische Rätekongress (Januar 1918) verabschiedete eine Direktive, mit der alle Befugnisse von der alten zaristischen Verwaltung auf die lokalen Sowjets übertragen wurden: „ Russland wird zur Republik der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte erklärt. Die ganze zentrale und lokale Macht gehört diesen Räten.“[21] Auf diesem Kongreß bestand Lenin darauf, daß die Massen die Initiative ergreifen sollten: „... sehr oft werden Delegationen von Arbeitern und Bauern zur Regierung geschickt und fragen, wie sie zum Beispiel mit diesem oder jenem Land verfahren sollten. Und ich selbst war schon mit peinlichen Situationen konfrontiert, in denen wir keinen ganz bestimmten Standpunkt hatten. Und ich sagte zu ihnen: Ihr seid die Macht, macht, was ihr wollt, nehmt, was ihr braucht, wir werden euch unterstützen. Einige Monate später erklärte der Bolschewistische Parteitag, dass „eine Minderheit, die Partei, den Sozialismus nicht verwirklichen kann“. Doch Zehnmillionen von Menschen werden in der Lage sein, ihn umzusetzen, wenn sie lernen, es selbst zu tun.
Der Oktober brachte das demokratischste Regime der Geschichte hervor. Die bürgerlichen Parteien genossen in den folgenden Monaten Handlungs- und Propagandafreiheit. Aber die russischen Kapitalisten und ihre imperialistischen Verbündeten konnten eine Revolution nicht tolerieren, die sie von der Macht vertrieben hatte und drohte, ein Magnet für die Massen des Westens zu werden.
Die Offensive der bewaffneten Banden der Konterrevolution, die bereit waren, mit denen abzurechnen, die es gewagt hatten, das heilige Eigentum der russischen Millionäre und Grundbesitzer sowie der imperialistischen Bankiers und Spekulanten anzugreifen, dauerte fünf Jahre. Bis zu einundzwanzig imperialistische Armeen griffen das revolutionäre Russland militärisch an, um den jungen Arbeiterstaat auszulöschen. Aber die Arbeiter und Bauern organisierten unter der politischen Führung der Bolschewiki einen erstaunlichen Widerstand und triumphierten. Der Schlüssel zu ihrem Erfolg war nicht die Überlegenheit der Waffen oder die Hilfe einer fremden Macht, sondern der Wille und die Moral von Millionen von Kämpfern, die für Land und Fabriken, für die Zukunft ihrer Familien kämpften. Das revolutionäre Programm des Bolschewismus wurde zur mächtigsten Waffe, die in der Lage war, aus den Trümmern einer Gesellschaft, die durch drei Jahre Weltkrieg zerbrochen war, eine mächtige Rote Armee von mehr als fünf Millionen Kämpfern aufzustellen.
Anmerkungen
[1] R. Luxemburg: „Zur russischen Revolution“. In: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4 (6. überarbeitete Auflage), Berlin 2000, S. 341.
[2] Sozialrevolutionäre: Eine kleinbürgerliche Partei, die aus der Vereinigung verschiedener populistischer Gruppen hervorging. Ihre Positionen kombinierten Ideen des Reformismus und des Anarchismus.
Menschewiki: Die reformistische Tendenz der russischen Sozialdemokratie. Sie erhielt ihrem Namen auf dem Zweiten Kongress der SDAPR (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands) im Jahre 1903, da ihre Mitglieder in der Abstimmung über das Zentralkomitee in der Minderheit („menschinstwo“, russ. Minderheit) waren, während die revolutionären Sozialdemokraten unter Führung Lenins die Mehrheit („bolschinstwo“, russ. Mehrheit) erhielten und Bolschewiki genannt wurden.
[3] Duma: Unter dem zaristischen Regime entstandenes Parlament. Es hatte keine verfassungsgebenden Befugnisse.
[4] L. Trotzki: „Geschichte der Russischen Revolution. Februarrevolution“, Essen 2010, S. 1
[5] L. Trotzki: „Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats“, Essen 1999, S.123
[6] Leo Trotzki, „Geschichte der Russischen Revolution. Oktoberrevolution“, S.556
[7] Leo Trotzki, „Geschichte der Russischen Revolution“, S.188.
[8] Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, Band 6, „Die Bourgeoisie und die Konterrevolution“, S. 108ff., Dietz Verlag, Berlin/DDR, 1960
[9] Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, Band 7, „Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März“, S.247ff., Dietz Verlag, Berlin/DDR, 1960
[10] L. Trotzki: Die permanente Revolution. Frankfurt a.M. 1969, S. 27ff.
[11] Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 2, Berlin 1986, S. 93–170.
[12] Frei übersetzt nach E. H. Carr: Die bolschewistische Revolution 1917-1923, t. I, Alianza Editorial, Madrid, 1979, S. 58-59, 72.
[13] W. I. Lenin: Das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Bauernbewegung. „Proletarij", Nr. 16, 14. (1.) September 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 241-251
[14] W. I. Lenin: Telegramm an die nach Russland reisenden Bolschewiki. Werke, Band 23,Berlin 1975: S. 306
[15] Eigene Übersetzung
[16] Frei übersetzt nach Lenin, Jean Jacques Marie, Ed POSI, Madrid 2008, p.141
[17] L. Trotzki: Geschichte der Russischen Revolution. Oktoberrevolution, S.178
[18] Ebd. S.188
[19] L. Trotzki: Die Lehren des Oktobers. Eigene Übersetzung
[20] Frei übersetzt nach De la insurrección de octubre a la formación de la Tercera Internacional, “En defensa de la revolución de octubre”, VVAA, FUNDACIÓN FEDERICO ENGELS, Madrid 2007, S. 95.
[21] ZEK: Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes. In: „Prawda", Nr. 2, 17. (4.) Januar 1918. Nach Sämtliche Werke, Band 22, 1934, S. 617-619