Seit dem Jahr 1905 hatten die Bolschewiki eine militärische Organisation, die sich der heimlichen Propaganda unter den Truppen widmete. Nach der Revolution im Februar 1917 nahm die Aktivität der Partei unter den Soldaten eine enorme Dimension an. Es ging nicht nur darum, die Macht der zaristischen Offiziere zu untergraben und jeden Versuch eines Militärputsches gegen die Sowjets zu vereiteln – weswegen die bolschewistischen Kader an der Bildung von Soldatenkomitees beteiligt waren – , sondern sie arbeiteten auch bewusst daran, die zukünftigen Kräfte des bewaffneten Aufstands zu bündeln. 
 
Auf der allrussischen Konferenz der bolschewistischen Militärorganisation am 16. Juli waren 500 Einheiten mit insgesamt 30.000 Soldaten vertreten. Nach der gescheiterten Militäroffensive im Juli und dem Putschversuch von General Kornilow wuchs der bolschewistische Einfluss in den Kasernen und Schützengräben unaufhaltsam: Im September genoss die Partei die Unterstützung der Mehrheit der Petrograder Garnison und zahlreicher Moskauer Regimenter und die Truppen an der Nordfront und in der Ostseeflotte wurden zu Hochburgen des Bolschewismus. 
 
Zusätzlich zu der Arbeit unter den Soldaten organisierten die Bolschewiki die Roten Garden, die eine entscheidende Rolle während des Aufstandes und bei der anfänglichen Organisation der Roten Armee spielen sollten. Als Folge der Situation der Doppelmacht, die während des gesamten Jahres 1917 bestand, wurde diese bewaffnete Abteilung der proletarischen Avantgarde Ziel von zahlreichen Entwaffnungsversuchen der provisorischen Regierung, die jedoch stets vereitelt werden konnten. 
 
Die revolutionären Soldaten und die Roten Garden bildeten die Stoßtruppen für die Machtergreifung und sie waren es auch, die die ersten militärischen Siege über die Konterrevolution im Landesinneren errangen. Aber die Situation sollte noch viel komplizierter werden. Die Konfrontation mit den politischen Organisationen des alten Regimes war eine Sache, aber es war etwas ganz anderes, die direkte militärische Intervention der imperialistischen Mächte, die die Tätigkeiten der zaristischen Generäle instruierten und lenkten, abzuwehren. Ohne die imperialistische Aggression von außen hätte es keinen derartig langanhaltenden Bürgerkrieg gegeben. 
 
Die bewaffnete Verteidigung der Revolution
 
Der Zweite Kongress der Sowjets, der die Machtergreifung der Bolschewiki unterstütze, billigte auch zahlreiche revolutionäre Dekrete, darunter das von Lenin entworfene Dekret zugunsten eines gerechten und demokratischen Friedens zur sofortigen Beendigung des imperialistischen Massakers. 
 
Alle kriegsführenden Regierungen wurden zur Aufnahme von Verhandlungen eingeladen. Großbritannien und Frankreich lehnten das sowjetische Angebot ab, aber Deutschland – die wichtigste kriegsführende Macht – nahm es an, in vollem Bewusstsein über die militärische Schwäche des jungen Sowjetrusslands.  Die von den Deutschen aufgestellten drakonischen Bedingungen verursachten eine Krise innerhalb der neuen Regierung und der bolschewistischen Partei. Lenin war für die sofortige Unterzeichnung des Friedens, aber er sah sich mit einer Opposition innerhalb des Zentralkomitees konfrontiert. Diese Befürworter eines „revolutionären Krieges“ gegen den deutschen Imperialismus bezeichneten sich selbst als „Linke Kommunisten“. Zu ihnen zählten unter anderem Bucharin, Preobraschenski, Bubnow, Uritski und Piatakow. Im Gegensatz dazu bestand die Position Trotzkis, der zum Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten ernannt wurde, darin, die Verhandlungen fortzuführen und Zeit zu gewinnen, während die Revolution im Inneren Deutschlands unterstützt werden sollte. 
 
Nach mehreren Verhandlungsrunden in der weißrussischen Stadt Brest-Litowsk zerschmetterte der deutsche Generalstab die Taktik Trotzkis und der sowjetischen Vertreter, die versuchten, die Gespräche so lange wie möglich hinauszuzögern, um dem Aufstand der deutschen Arbeiter Zeit zu gewähren. Die deutsche Armee startete am 17. Januar 1918 eine Großoffensive und den bolschewistischen Führern blieb nichts anderes übrig, als an den Verhandlungstisch zurückzukehren und sehr harte territoriale Zugeständnisse in Bezug auf die Ukraine und auf Lettland, Estland und Litauen zu akzeptieren. Die deutschen Imperialisten eigneten sich 27% des Ackerlandes Sowjetrusslands, 26% der Eisenbahnstrecken und 75% der Stahl- und Eisenproduktion an. Am 3. März 1918 unterzeichnete der Rat der Volkskommissare, im Sinne der Verteidigung der russischen Revolution, den Friedensvertrag von Brest-Litowsk, der in keiner Weise gerecht oder demokratisch war. 
 
Diese Erfahrung warf ein Licht auf die militärischen Aufgaben, vor denen der junge Arbeiterstaat stand. Eine Armee wie die der Deutschen zu bekämpfen war eine gänzlich andere Aufgabe als die des Aufstandes gegen Kerenskis demoralisierte Kräfte. Im Frühling und Sommer 1918 verschlechterte sich die Situation weiter: Die Deutschen besetzten Polen, Litauen, Lettland, Weißrussland und einen erheblichen Teil von Großrussland. Die Ukraine war dank der Kooperation der bürgerlichen Nationalisten zu einer deutsch-österreichischen Kolonie geworden. Zu allem Überfluss erhob sich die aus Kriegsgefangenen bestehende tschechoslowakische Legion auf Geheiß des französischen und britischen Oberkommandos, während sich der von Krasnow befehligte weiße Aufstand im Süden ausbreitete und im Norden Murmansk und Archangelsk von den Briten besetzt wurden. Die Revolution war von allen Seiten bedroht. 
 
In dieser Notsituation wurde die Aufgabe der bewaffneten Verteidigung der Revolution Leo Trotzki anvertraut, der im März 1918 vom Zentralkomitee der Bolschewiki und dem Exekutivkomitee der Sowjets zum Kriegskommissar ernannt wurde. Seine außergewöhnliche Leistung auf diesem Gebiet, die in seinen militärischen Schriften brillant festgehalten ist, gehört zum besten Vermächtnis der internationalen Arbeiterbewegung und der sozialistischen Revolution.
 
Eine disziplinierte und zentralisierte Klassenarmee
 
Trotzki verstand, wie jeder Marxist, den Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, aber er verwarf entschieden jeden doktrinären Formalismus. Mit kreativem und mutigem Einsatz aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel stellte er diejenigen militärischen Auffassungen seiner Parteigenossen in Frage, die „prinzipienfest“ erscheinen mochten, aber unter den extremen Bedingungen des Kampfes unwirksam waren. 
 
Er selbst wies auf die enormen Schwierigkeiten hin, auf die er dabei stieß: 
 
„Nach dem Zerfall der alten Armee blieb ein Hass im Land zurück, ein unerbittlicher Hass auf die Militärkaste. Die alte Armee, die enorme Opfer erdulden musste, erntete nichts als Niederlagen, Demütigungen, Rückzüge, Millionen von Toten und Millionen von Invaliden und Milliarden von Ausgaben. Es ist nicht überraschend, dass dieser Krieg im Gewissen des Volkes eine Ablehnung des Militarismus und des Soldatentums hinterlassen hat. Und unter diesen Bedingungen, Genossen, begannen wir mit der Schaffung einer Armee. Hätten wir auf jungfräulichem Boden angefangen, wäre es von Anfang an einfacher und sicherer gewesen. Aber nein: Es lag an uns, die Armee auf dem Land aufzubauen, das noch mit dem Blut und dem Schlamm des vergangenen Krieges bedeckt war, auf dem Land der Not und der Erschöpfung, wo der Hass auf den Krieg und auf alles Militärische in Millionen und Abermillionen von Arbeitern und Bauern lebendig war.“ [1]
 
Wie kann, in dieser allgemeinen Stimmung der Mutlosigkeit und Demoralisierung, der militärische Wiederaufbau gelingen? Die ersten Maßnahmen, beschränkt auf die Rekrutierung kommunistischer Freiwilliger und Kader der proletarischen Avantgarde, erwiesen sich als unzureichend für die drängenden Aufgaben des Tages. Natürlich war es notwendig, die enthusiastischsten und engagiertesten Revolutionäre zu integrieren, einen bewussten Kern zu bilden, der Stärke ausstrahlen und die Moral breiter Schichten von Arbeitern und Bauern heben konnte. Aber ein derartig groß angelegter Krieg erforderte eine große, disziplinierte und opferbereite Masse an Soldaten, geführt von kompetenten und gebildeten Kommandeuren. 
 
Der Plan, den Trotzki im Frühjahr 1918 dem Allrussischen Exekutivkomitee der Sowjetunion vorlegte, basierte auf drei strategischen Aufgaben: a) allgemeine Zwangsmobilisierung, zuerst der Arbeiter von Petrograd, Moskau und anderer Städte, dann mit massiver Einbeziehung der Bauernschaft; b) Einsatz von Militärspezialisten, oder, mit anderen Worten, Einbeziehung der Offiziere und Unteroffiziere der alten zaristischen Armee; c) Einrichtung eines zentralisierten Oberkommandos. 
 
Dieses Programm rief starken innerparteilichen Widerstand hervor. Die „Linken Kommunisten“ lehnten diese Orientierung entschieden ab und argumentierten, dass der Rückgriff auf zaristische Offiziere den revolutionären Charakter und die Klassenbasis der neuen Armee untergraben würde und dass die Zentralisation und das einheitliche Kommando die alten Strukturen der zaristischen Offizierskaste wieder hervorbringen und die demokratischen Strukturen der Soldatenkomitees zerstören würde. 
 
Diesen Argumenten, die später die so genannte „Proletarische Militärdoktrin“ bilden sollten, stellte Trotzki die Fakten entgegen: 
 
„Ich habe bereits in meinem Bericht ausgeführt, dass wir im Allgemeinen keine Armee bräuchten, wenn die Gefahren, die uns drohen, auf eine interne Konterrevolution beschränkt wären. Die Arbeiter in den Fabriken in Petrograd und Moskau könnten jederzeit genügend Kampftruppen aufstellen, um jeden Versuch eines bewaffneten Aufstandes, der darauf abzielt, der Bourgeoisie die Macht zurückzugeben, zu zerschlagen. Unsere inneren Feinde sind zu unbedeutend und erbärmlich, als dass es notwendig wäre, Im Kampf gegen sie einen perfekten Militärapparat zu schaffen, der auf wissenschaftlichen Grundalgen fußt und die gesamte Streitmacht des Volkes mobilisiert. Wenn wir jetzt eine solche Truppe brauchen, dann gerade deshalb, weil das Sowjetregime und das Land von außen ernsthaft bedroht sind, weil unsere inneren Feinde nur aufgrund der Verbindung, die sie zu unseren äußeren Klassenfeinden haben, stark sind. Und genau in dieser Hinsicht leben wir in einer Zeit, in der der Kampf für das von uns geschaffene Regime direkt oder indirekt davon abhängt, die Verteidigungsfähigkeit des Landes auf das höchste Niveau zu bringen.“ [2]
 
Das Zurückgreifen auf die alte Offiziersschicht ergab sich aus den zwingenden Erfordernissen zur Verteidigung der Revolution. Für Trotzki ging es nicht um eine theoretische Diskussion über die Form, die eine Armee in einer sozialistischen Gesellschaft annehmen könnte und die, wie Friedrich Engels in zahlreichen Schriften betonte hatte, auf Bürgermilizen basieren würde. Eine solche Streitmacht könnte nur in einer Phase des Überflusses und des Fortschritts der Produktivkräfte, der technologischen Entwicklung der Gesellschaft und des hohen kulturellen Niveaus der Bevölkerung geschaffen werden; Bedingungen, von denen das vom Krieg zerstörte und ruinierte Russland 1918 weit entfernt war. 
 
Trotzki bestand darauf, dass das kulturelle Erbe Russlands und der Revolution gerettet und als Mittel zur sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft und zum Aufbau der neuen Arbeitermacht verwendet werden musste. Solange die militärische Verteidigung der Revolution notwendig war, gehörten dazu die militärischen Fähigkeiten und Kenntnisse der Vergangenheit. Das war kein abstraktes Prinzip, sondern die lebendige Notwendigkeit, den Arbeiterstaat gegen Konterrevolution und imperialistische Intervention zu schützen. Durch seine dialektische Analyse erkannte Trotzki den in der Frage des Militärs vorherrschenden Widerspruch zwischen der potenziellen Macht der siegreichen Arbeiterklasse und ihrer kulturellen und wissenschaftlichen Rückständigkeit. 
 
Er machte sich keine Illusionen über den Charakter der alten Offiziere, die in vielen Fällen auf Sabotage und Desertion zurückgriffen. Aber er vertraute auf die Kraft und die Anziehung der Revolution. Um ihre Loyalität zu sichern, stellte er ihnen sogenannte Rote Kommissare an die Seite, die aus bewährten kommunistischen Kadern bestanden. Diese Art der militärischen Organisation hatte ihre unmittelbaren Vorläufer in der jakobinischen Periode der französischen Revolution und war erfolgreich: Die Kommandeure, zuständig für die Ausbildung und militärische Operationen, auf der einen Seite und die Kommissare, die über die Loyalität der Kommandeure und die Moral der Truppen wachten, auf der anderen. 
 
Wie Isaac Deutscher schrieb: 
 
„Niemand zollte der Wirksamkeit dieses Systems seinen volleren, wenn auch widerwilligen Respekt als der [weiße] General Denikin, sein Opfer: ‚Die Sowjetregierung kann stolz auf das Geschick sein, mit dem sie den Willen und die Hirne der russischen Generäle und Offiziere versklavt und sie zu ihrem gehorsamen Instrument gemacht hat.“ [3]
 
Dieselbe Kritik der Linken Kommunisten bezog sich auch auf die Frage des Kommandos und die Rolle der Soldatenkomitees bei der Ernennung von Offizieren in der Roten Armee. Trotzki bestand auf seine Position: Das Recht der Soldaten, ihre Kommandeure selbst zu wählen (eine Forderung, die die Bolschewiki nach der Februarevolution kühn aufgestellt hatten) konnte die konterrevolutionären Bestrebungen der zaristischen Offiziere unterbinden. Aber innerhalb der Armee der proletarischen Revolution würde diese Forderung, die dem Klassenkampf gegen die Kapitalisten entsprungen war, die Ausführung von entscheidenden Befehlen unter den schwierigen Bedingungen des Bürgerkrieges nur behindern. Ein einziges, zentralisiertes Oberkommando war unerlässlich, um die Verteidigung gegen die überlegenen militärischen Mächte aufzubauen. 
 
Trotzki hob die Bedeutung von Ordnung, Disziplin, Sauberkeit und Vorbereitung in der neuen Roten Armee hervor. Aber er begriff deren Stärke nicht einfach als etwas Technisches oder Organisatorisches. Die Armee stützte sich auf die Arbeiterklasse und die arme Bauernschaft: Ihre Moral hing von ihrem kollektiven revolutionären Bewusstsein und den sozialistischen und internationalistischen Zielen ab, für die sie kämpften. 
 
Der Eid der Soldaten der Roten Armee war der beste Beweis für diese Auffassung: 
 
„Ich, ein Sohn des werktätigen Volkes, ein Bürger der Sowjetrepublik, nehme den Titel eines Soldaten der Arbeiter- und Bauernarmee an. Vor den arbeitenden Klassen Russlands und der ganzen Welt verpflichte ich mich, diesen Titel mit Ehre zu tragen, die Militärkunst gewissenhaft zu studieren und das nationale und militärische Eigentum wie meinen Augapfel zu behüten. Ich verpflichte mich, die revolutionäre Disziplin jederzeit strikt einzuhalten und alle Befehle der von den Behörden der Arbeiter- und Bauernregierung ernannten Führer ohne Einwände auszuführen (…) Ich verpflichte mich, die Sowjetrepublik gegen alle Gefahren und Angriffe ihrer Feinde zu verteidigen und im Kampf für die russische Sowjetrepublik, für die Sache des Sozialismus und für die Brüderlichkeit der Völker weder Kraft noch Leben zu schonen.“ [4]
 
Gerade als die Situation ausweglos schien, ermöglichte dieser Ansatz, alle Kräfte der Revolution zu mobilisieren, die Arbeiterklasse und die arme Bauernschaft in der Kunst des Krieges zu unterweisen und eine mächtige Armee zu schaffen, die jeden in Erstaunen versetzte. 
 
Kasan und die Verteidigung von Petrograd
 
„Der Frühling und der Sommer 1918 waren eine außerordentlich schwere Zeit. Erst jetzt kamen alle Folgen des Krieges zum Vorschein. In manchen Augenblicken hatte man das Gefühl, daß alles auseinanderkrieche und es nichts gäbe, woran man sich anklammern könnte. Es entstand die Frage: Werden die Lebenssäfte des entkräfteten, verwüsteten, verzweifelten Landes für die Unterstützung des neuen Regimes und die Rettung seiner Unabhängigkeit überhaupt ausreichen?“ [5]
 
1918 und 1919 waren der Lackmustest für die Rote Armee. In diesen vierundzwanzig Monaten manifestierte sich die Energie des russischen Volkes in den großen Kämpfen gegen die imperialistischen Truppen und die konterrevolutionären Weißgardisten. Diese junge Armee von Arbeitern und Bauern, die im Feuer des Kampfes gestählt und perfektioniert wurde, schrieb Geschichte im weltweiten Klassenkampf. 
 
Nachdem die Truppen der tschechischen Legion und der Weißgardisten die Stadt Samara einnahmen und die Stadt Kasan in der Wolgaregion besetzten, wurde Leo Trotzki vom Rat der Volkskommissare beauftragt, an die Front zu gehen: In der Nacht vom 6. August 1918 wurde der berühmte Panzerzug in Bewegung gesetzt, der von nun an zweieinhalb Jahre lang sein Zuhause sein sollte, mit dem er mehr als 100.000 Kilometer zurücklegte und aus dem heraus er eine Armee organisierte, die anfangs nicht viel mehr als ein Experiment war. 
 
Der Fall von Kasan deckte die militärischen Schwächen der Revolution auf: 
 
„Die in aller Eile zusammengestellten roten Abteilungen hatten kampflos die Positionen verlassen und Kasan entblößt (…) Hat in jenen Tagen viel daran gefehlt, daß die Revolution zusammenbrach? Ihr Territorium war auf den Umfang des alten Moskauer Fürstentums eingeengt. Sie hatte fast keine Armee. Die Feinde umlagerten sie von allen Seiten.“ [6]
 
Die Reorganisation der Streitkräfte wurde unter der Leitung des Kriegskommissars und der Kommandeure der 5. Armee effektiv durchgeführt. 
 
„Die bunt zusammengewürfelten Abteilungen“, schrieb Trotzki, „formierten sich zu regulären Truppenteilen. In sie ergossen sich kommunistische Arbeiter aus Petrograd, Moskau und anderen Orten. Die Regimenter festigten und stählten sich. Die Kommissare bei den Truppenteilen bekamen die Bedeutung revolutionärer Führer, unmittelbarer Vertreter der Diktatur.“ [7]
 
Der Erfolg hing davon ab, dass man weder die eigene Schwäche verbarg noch die Massen, die ihr Blut vergießen mussten, mit List und Täuschung manipulierte. 
 
Viele von ihnen waren Kommunisten, Männer wie Frauen, die bereit waren, alles Notwendige zu tun: Oberst Vazetis und seine lettischen Schützen, Iwan Nikitsch Smirnow, der „das vollendetste und vollständigste Profil eines Revolutionärs besaß“, der Chef der kleinen bolschewistischen Flotte an der Wolga, Raskolnikow, oder die junge Revolutionärin Larissa Reissner. Sie alle eroberten am 10. September, zusammen mit 25.000 roten Soldaten, Kasan; zwei Tage später taten die von Tuchatschewski befehligten Kräfte dasselbe in Simbirsk. 
 
Der Sieg bei Kasan hatte einen enormen moralischen Effekt; in den folgenden sieben Monaten eroberte die Rote Armee eine Million Quadratkilometer mit 40 Millionen Einwohnern zurück. Aber der Krieg dauerte an und das folgende Jahr, 1919, brachte weitere große Bedrohungen mit sich. 
 
Die drei wichtigsten Feldzüge der Konterrevolution waren Koltschaks Vorstoß aus Sibirien gegen die Wolga und Moskau im Frühjahr 1919, Denikins Angriffe auf Moskau und Kiew aus dem Süden (die sehr erfolgreich verliefen und zeitweise Kiew unter seine Kontrolle brachten) im Sommer und die große Herbst-Offensive zur Eroberung von Petrograd, angeführt von Judenitsch und mit englischer Unterstützung.
 
„Während dieser Zeit der allgemeinen Depression“, schreibt Deutscher, „kannten Trotzkis Optimismus und Energie keine Grenzen […] Die Front wurde neu organisiert, Reserven wurden aufgebaut und durch die radikale Verkürzung der Kommunikationswege erhielten die Truppen reichlich Nachschub. Der Feind hatte sich selbst übernommen und die Macht der Roten Armee war wie eine Sprungfeder, bereit, los zu schnellen. […] Trotzki erhob sich nun zu seiner vollen Statur, nicht nur als oberster Verwalter und Organisator der Armee, sondern auch als ihr Inspirator, als Prophet…“ [8]
 
Als Judenitsch seine Offensive begann, hatte der weiße General Denikin die Stadt Orel bereits eingenommen und bedrohte Tula, das wichtigste Zentrum der sowjetischen Rüstungsindustrie. Wäre der Vormarsch erfolgreich gewesen, wäre als nächstes Moskau gefallen. Der Widerstand in Petrograd war unerbittlich, aber die offensichtliche Überlegenheit von Judenitschs Truppen, die vor allem aus Offizieren bestanden und mit britischen Waffen ausgestattet waren, säte Panik unter den Verteidigern. 
 
Lenin erkannte die Probleme und schlug vor, die Hauptstadt der Revolution nach Süden zu evakuieren, wodurch sie die Front aufgerollt hätten. Trotzki widersprach diesem Ansatz: „Judenitsch und seine Herren würden sich mit Petrograd allein nicht begnügen: sie haben den Wunsch, sich mit Denikin in Moskau zu treffen. In Petrograd würde Judenitsch riesige Industrievorräte und Menschenmaterial vorfinden“ [9]. Am 13. Oktober 1919 stimmten das Politbüro der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) und der Verteidigungsrat für Trotzkis Plan, die gesamte Sowjetrepublik zu militarisieren und „Petrograd bis zum letzten Blutstropfen verteidigen, keinen Fuß breit Boden preisgeben, den Kampf in den Straßen der Stadt führen.“ [10]
 
Zehn Tage lang war die Offensive von Judenitsch ein voller Erfolg. Die endgültige Niederlage schien unmittelbar bevorzustehen. Nur die revolutionäre Leidenschaft des unterdrückten Volkes konnte die Situation wenden. Und so geschah es, dass Petrograd, dank der Initiative des Proletariats, verteidigt werden konnte – und den heroischen Widerstand des antifaschistischen Madrid 20 Jahre später vorwegnahm.
 
„Sobald man aber unten von dem Gefühl erfaßt wurde, Petrograd werde nicht preisgegeben, sondern, wenn es dazu kommen sollte, in den Straßen und auf den Plätzen verteidigt werden, schlug die Stimmung jäh um. Die Kühneren und Aufopferungsfähigen erhoben die Häupter. Abteilungen aus Männern und Frauen verließen mit Sappeurinstrumenten die Fabriken und Werkstätten. Schlecht sahen damals die Arbeiter Petrograds aus: von mangelhafter Ernährung die Gesichter grau wie die Erde, in Fetzen abgetragener Kleidung, durchlöcherte Schuhe an den Füßen, nicht selten aus verschiedenen Paaren. ‚Werden wir Petrograd nicht preisgeben, Genossen?‘ ‚Nicht preisgeben!‘ (…) Die ganze Stadt wurde in Bezirke eingeteilt, unter Leitung von Arbeiterstäben (…) Die Kanäle, Gärten, Mauern, Wände und Häuser wurden befestigt. An der Stadtperipherie und die Newa entlang wurden Schützengräben ausgeworfen. Der ganze südliche Stadtteil verwandelte sich in eine Festung. In vielen Straßen und auf Plätzen erstanden Barrikaden.“ [11]
 
Am 21. Oktober, nach dem sie sich tagelang nur auf dem Rückzug befunden hatten, verbarrikadierten sich die roten Soldaten im Stadteil Púlkovo und schlugen die Angriffe zurück. In der Abenddämmerung des 23. Oktober begannen sie, die Angreifer ihrerseits zurückzudrängen: „Die Abteilungen, die der Angriff überrascht und die eine Kette von Mißerfolgen erbittert hatte, wetteiferten nun in Selbstaufopferung und Heroismus. Es gab viele Opfer (…) Der Stab der Weißen schrieb über den ‚heroischen Wahnsinn‘ der Roten.“ [12]
 
Dieser Sieg in Petrograd ermöglichte den Sieg der Roten Armee im ganzen Bürgerkrieg. Auf Lenins Vorschlag wurde Trotzki für seine Verdienste und seinen Anteil daran mit dem Orden der Roten Fahne ausgezeichnet. 
 
Eine Schule für revolutionäre Taktik und Strategie
 
Auch wenn die militärische Technologie und Organisation in Kämpfen und Kriegen eine große Rolle spielt, so ist doch die Politik, die hinter den Konfliktparteien steht, der entscheidende Faktor. 
 
„In jedem Krieg“, sagt Lenin, „hängt der Sieg in letzter Instanz vom Kampfgeist der Massen ab, die auf dem Schlachtfeld ihr Blut vergießen (…) Die zaristischen Generale sagen, daß unsere Rotarmisten Strapazen ertragen, die von keiner Armee des Zarenreichs ausgehalten worden wären. Das ist damit zu erklären, daß jeder unter den Waffen stehende Arbeiter und Bauer weiß, wofür er in den Kampf geht, und bewußt sein Blut vergießt für den Triumph der Gerechtigkeit und des Sozialismus. Daß die Massen die Ziele und Ursachen des Krieges begreifen, ist von größter Bedeutung und sichert den Sieg.“ [13]
 
Der Erfolg der Roten Armee und ihre Fähigkeit, eine Front von über 8.000 Kilometern Länge zu verteidigen, lässt sich nur durch den Charakter des Staates erklären, für den sie kämpfte: Ein revolutionäres Regime, basierend auf dem Bündnis der Arbeiterklasse mit der armen Bauernschaft. Die Millionen von Bauern, die in den Schützengräben des Bürgerkrieges kämpften und von denen die meisten keine Mitglieder der bolschewistischen Partei waren, wussten, dass dies der einzige Weg war, ihre Interessen zu verteidigen und die Sowjetrepublik zu retten. Die allgemeine Verteilung des Landes und die Agrarreform konnten nur durchgeführt werden, wenn Koltschak, Denikin, Judenitsch, Wrangel und alle anderen weißen Generäle besiegt werden würden. 
 
Die Bolschewiki stützten sich nicht nur auf die Mobilisierung der Unterdrückten in Russland – ihr Aufruf zum weltweiten Sturz des Kapitalismus und die Schaffung der Dritten Internationale waren entscheidend für den Sieg über die Imperialisten und den Rückzug ihrer Truppen von sowjetischen Territorium. 
 
Trotzki und Lenin bewiesen im Bürgerkrieg die Rolle der Theorie als Grundlage der Praxis und verdeutlichten, dass die Kunst des Krieges nicht doktrinär oder formalistisch ist. Trotzki schrieb Tausende von Proklamationen und Artikeln und hielt Dutzende von Reden über den revolutionären Krieg und den Aufbau der Roten Armee, die in seinen „Militärischen Schriften“ versammelt sind. In ihnen betonte er die dialektische Beziehung zwischen Theorie und Praxis, die Bedeutung der Moral für die Kampffähigkeit der Truppen und die Lehren, die aus der Strategie und den Manövern des Feindes gezogen werden konnten. 
 
Den Dogmatikern der so genannten „Proletarischen Militärdoktrin“, die von der falschen Grundlage ausgingen, dass jede soziale Klasse ihre eigene Militärwissenschaft besitzt, und die von der proletarischen Armee Mobilität und Offensive anstatt der „bürgerlichen defensiven und statischen Kriegsführung“ verlangten, antwortete Trotzki: 
 
„Der Krieg basiert auf vielen Wissenschaften, aber er selbst ist keine: Er ist eine praktische Kunst, eine Fertigkeit […], wild und blutig. […] Der Versuch, mit Hilfe des Marxismus eine neue Militärdoktrin zu formulieren ist dasselbe wie der Versuch, mit Hilfe des Marxismus eine neue Architektur oder eine neues Veterinärhandbuch zu schaffen.“ [14]
 
Trotzki ließ sich nicht täuschen und er antwortete seinen Gegnern mit konkreten, praktischen Beispielen: Die erfolgreichen Manöver, die die Rote Armee direkt von den Weißgardisten übernommen hatte oder die berühmte Budiony-Kavallerie – in dem brillianten Werk von Isaak Bábel verewigt [15] –, die auf dem Höhepunkt der Offensive Denikins geschaffen wurde, um der verheerenden weißen Kavallerie etwas entgegen zu setzten. Damals erließ Trotzki seinen berühmt gewordenen Befehl „Proletarier, auf die Pferde!“.
 
Er verstand es, Vorurteile zu überwinden und die konkrete Realität dahinter zu betrachten und aus ihr zu lernen. Die Verwendung von Kavallerie beispielsweise wurde durch die Kampfbedingungen in sehr weiten und unbewohnten Regionen aufgezwungen. „Diese konservative Waffe, die zu einem großen Teil bereits ausgestorben ist, ist, sozusagen plötzlich, wiederaufgetaucht. Sie ist zum wichtigsten defensiven und offensiven Mittel in den Händen der konservativsten und dekadentesten Klassen geworden. Wir müssen ihnen diese Waffe wegnehmen und sie uns aneignen.“
 
Er wandte sich auch gegen diejenigen, die die napoleonische Armee nachahmen und die Offensive zur Grundlage der Roten machen wollten. Trotzki erklärte, dass Frankreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine der fortschrittlichsten Nationen Europas war und dass Napoleon in verzerrter Form die Errungenschaften der französischen Revolution gegen die halbfeudalen monarchistischen Nachbarregime durchsetzte. Für Trotzki gab es keine absolute Wahrheit im Krieg. 
 
Angesichts der Unterstützung für ein „mobiles und demokratisches“ Guerilla-Modell verteidigte Trotzki mit Nachdruck die zentralisierte Armee mit einem festen Oberkommando, was den Einsatz von Guerillakommandos als Hilfstruppen nicht ausschloss. Die Argumente gegen die Verwendung von zaristischen Militärspezialisten in der neuen Armee widerlegte er, indem er ihre Nützlichkeit bewies. 
 
Trotzki berichtete von einer sehr bedeutsamen Diskussion, die er mit Lenin geführt hatte: 
 
„In den Tagen unserer Mißerfolge im Osten, als Koltschak sich der Wolga näherte, schrieb mir Lenin während der Sitzung des Rates der Volkskommissare, zu der ich direkt vom Zuge aus erschienen war, ein Zettelchen: ‚Sollen wir vielleicht doch alle Spezis ohne Ausnahme davonjagen [?‘] (…) Ich antwortete auf demselben Papierfetzen: ‚Kinderspielzeug‘ (…) Nach der Sitzung kamen wir zusammen. Lenin erkundigte sich nach der Front. ‚Sie fragten, ob wir nicht alle ehemaligen Offiziere davonjagen sollten. Wissen Sie auch, wie viele davon wir jetzt in der Armee haben?‘ ‚Ich weiß es nicht,‘ ‚Nun, was glauben Sie, schätzungsweise?‘ ‚Ich weiß nicht.‘ ‚Nicht weniger als dreißigtausend. Auf einen Verräter kommen hundert zuverlässige, auf einen Überläufer zwei bis drei im Kampf gefallene. Durch wen sollen wir sie alle ersetzen?‘ Nach einigen Tagen hielt Lenin eine Rede über die Aufgaben des sozialistischen Aufbaus. Dabei sagte er unter anderem folgendes: ‚Als mir Genosse Trotzki kürzlich mitteilte, daß die Zahl der Offiziere in unserem Kriegsamte einige Zehntausend betrage, bekam ich eine konkrete Vorstellung davon, worin das Geheimnis der Ausnutzung unseres Feindes besteht ... wie man den Kommunismus aus den Ziegelsteinen bauen muß, die von den Kapitalisten gegen uns bestimmt waren!“ [16]
 
Der 8. Parteitag der bolschewistischen Partei (März 1919) stellte sich leidenschaftlich auf die Seite Trotzkis und seiner Politik und wies die Kritik der Opposition zurück, deren Mitglieder später in vielen Fällen zu Kollaborateuren Stalins werden sollten. 
 
Offiziell dauerte der Bürgerkrieg mehr als dreißig Monate, bis zur endgültigen Niederlage General Wrangels an der Südfront am 20. November 1920. Obwohl noch kleinere bewaffnete Auseinandersetzungen folgten, blieben die konterrevolutionären Kräfte geschlagen und die imperialistischen Mächte brachen ihre Intervention ab. 
 
Im Vergleich zu anderen Episoden der Russischen Revolution ist der große Sieg der Roten Armee im Bürgerkrieg innerhalb der revolutionären Linken kaum bekannt. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die bürokratische Kaste, die schließlich die Mach ergreifen sollte, begrub die Wahrheit um den herausragendsten Protagonisten dieser Zeit, Leo Trotzki, solange, bis sie aus der offiziellen Geschichte verschwand. Doch die durch Lügen und Verzerrungen verdeckte Erinnerung hielt sich bis heute und so kennen wir Lenins Worte, die später von Maxim Gorki aufgegriffen wurden: „Zeigen Sie mir einen anderen Mann, der in der Lage ist, in nur einem Jahr eine vorbildliche Armee zu organisieren und dabei noch die Anerkennung ihrer größten Feinde zu erlangen.“ 
 
Die ersten vier Kongresse der Kommunistischen Internationale
 
Es war nie der Plan Lenins und der Bolschewiki, den Sozialismus isoliert in einem rückständigen Agrarland wie Russland 1917 aufzubauen. Sie setzten ihre Hoffnungen darauf, der der Funke der Revolution, inspiriert durch den Sieg im Oktober, auf ganz Europa und insbesondere auf das Schlüsselland des Kontinents überspringen würde: auf Deutschland. 
 
So geschah es auch. Überall breiteten sich Aufstände in der Armee und Generalstreiks aus. Finnland Anfang 1918 und Deutschland und Österreich im November desselben Jahres; 1919 der Spartakus-Aufstand in Berlin und die Ausrufung der Sowjetrepubliken in Ungarn und Bayern; Die Streiks und Aufstände in Großbritannien von 1919 bis 1921; 1920 die revolutionäre Massenbewegung und die Fabrikbesetzungen in Italien; 1921 ein neuer Aufstand in Mitteldeutschland und von 1918 bis 1921 im spanischen Staat…
 
„Ganz Europa“, schrieb Lloyd George, britischer Premierminister, im März 1919 in einem geheimen Memorandum an den französischen Premierminister Clemenceau, „ist vom Geist der Revolution erfüllt. Es herrscht nicht nur ein tiefes Gefühl der Unzufriedenheit vor, sondern unter den Arbeitern auch der Wut und des Aufruhrs gegen die Nachkriegsbedingungen. Die gesamte bestehende Ordnung wird von einem Ende Europas bis zum anderen in all ihren politischen, sozialen und wirtschaftlichen Aspekten von den Massen der Bevölkerung in Frage gestellt.“
 
Die Bourgeoisie schaffte es kaum, die Situation einzudämmen. Sie musste sich auf die alten sozialdemokratischen Organisationen und die reformistischen Gewerkschaften stützen. In Russland scheiterte die herrschende Klasse, aber sie zog wertvolle Lehren aus ihrer Niederlage; sie wollte sich nicht noch einmal überrumpeln lassen.
 
In Deutschland war der Aufstand der Kieler Matrosen im November 1918 der Beginn der Revolution. In wenigen Wochen entstanden überall im Land Arbeiter- und Soldatenräte, die Hohenzollern-Monarchie wurde abgesetzt und die Republik ausgerufen. Aber die rechten Sozialdemokraten hatten aus den russischen Ereignissen die entsprechenden Schlüsse gezogen. Sie nutzten ihren Einfluss in den Räten, um ihre Ausbreitung zu verhindern, und koordinierten sich gleichzeitig mit der Bourgeoisie und den monarchistischen Generälen, um den revolutionären Flügel unter Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu zerschlagen. 
 
Nach der Niederschlagung des Berliner Aufstands Anfang Januar 1919 bedienten sie sich der rechten Freikorps [17], um Luxemburg und Liebknecht zu ermorden und den revolutionären Arbeitern den Krieg anzusagen. Die Führung der deutschen Sozialdemokratie setzte die im August 1914 begonnene Arbeit fort.
 
Die Oktoberrevolution offenbarte einen unüberwindbaren Riss in der sozialdemokratischen Bewegung, der nach dem Verrat in Deutschland offensichtlich wurde. In den Parteien der Zweiten Internationale entstanden kommunistische Tendenzen, die sich gegen die Abkehr ihrer Parteien von den internationalistischen Traditionen der Arbeiterbewegung wandten. Schon vorher hatten die Delegationen zu den Antikriegskonferenzen in Zimmerwald und Kienthal [18] die Schaffung einer neuen, revolutionären Internationale möglich gemacht.
 
„Die Gründung der III. Internationale“, schreibt Lenin, „erfolgte in einer solchen internationalen Situation, daß keinerlei Verbote, keinerlei kleinliche und klägliche Kniffe der „Entente"imperialisten oder der Lakaien des Kapitalismus, wie der Scheidemänner in Deutschland, der Renner in Österreich, verhindern konnten, daß sich die Kunde von dieser Internationale und die Sympathie für sie in der Arbeiterklasse der ganzen Welt ausbreiten. Diese Situation wurde geschaffen durch die allerorts täglich, ja stündlich unverkennbar heranreifende proletarische Revolution.“ [19]
 
Am 24. Januar 1919 richteten die Führungen der KPdSU (Bolschewiki) und der Kommunistischen Parteien Polens, Ungarns, Österreichs, Lettlands, Finnlands und der Sozialistischen Föderation des Balkans sowie der US-amerikanischen Sozialistischen Arbeiterpartei folgenden Appell an die internationale Arbeiterbewegung: 
 
„Genossen! Die unterzeichnenden Parteien und Organisationen halten die Einberufung des Ersten Kongresses der neuen revolutionären Internationale für eine dringende Notwendigkeit. Im Laufe des Krieges und der Revolution ist nicht nur der völlige Bankrott der alten sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien und mit ihnen der Zweiten Internationale und die völlige revolutionäre Unfähigkeit der zentristischen Elemente [20] in der alten Sozialdemokratie deutlich geworden, sondern auch, dass der Boden für die neue, wirklich revolutionäre Internationale bereits bereitet ist.“ [21]
 
Der Gründungskongress der Kommunistischen Internationale fand im März 1919 statt, als der imperialistische Angriff auf seinem Höhepunkt war und viele Delegierte an der Teilnahme gehindert wurden. 
 
Trotz dieser Rückschläge legten die jungen Kräfte der Komintern die politischen Grundlagen fest, die in den vorangegangenen Jahren von Lenin und Trotzki umrissen worden waren: Ablehnung des Wiederaufbaus der Zweiten Internationale mit derselben Struktur und derselben Politik wie vor dem Krieg; Anprangerung des bürgerlichen Pazifismus und kleinbürgerlicher Illusionen in das Friedensprogramm von US-Präsident Wilson; Verteidigung der marxistischen Theorie des Staates und Kritik der bürgerlichen Demokratie als eine Form der kapitalistischen Diktatur über das Proletariat. Die Schlussfolgerungen aus dem Kongress waren klar: Die neue Internationale würde dafür kämpfen, die revolutionäre Avantgarde des Proletariats in einer homogenen marxistischen Internationale zusammen zu führen. 
 
In den folgenden Jahren gab es einen unaufhörlichen Zustrom von sozialistischen Arbeitern in die Reihen der Kommunistischen Internationale. Dieser Druck der Massen veranlasste viele reformistische Führer dazu, in Worten ihre Unterstützung für die neue Organisation zu bekunden. Im März 1919 trat die Sozialistische Partei Italiens bei, im Mai die norwegische Arbeiterpartei und die Sozialistische Partei Bulgariens, im Juni die Sozialistische Linkspartei Schwedens. In Frankreich gewannen die Kommunisten auf dem Parteitag der Sozialisten in Tours (1920) eine Mehrheit: Der rechte Flügel spaltete sich mit 30.000 Mitgliedern ab und die Kommunistische Partei Frankreichs wurde mit 130.000 Mitgliedern gegründet- Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) beschloss auf ihrem Kongress in Halle (1920) mehrheitlich den Zusammenschluss mit der deutschen Kommunistischen Partei (KPD), die daraufhin zu einer Massenorganisation wurde. Dasselbe geschah in der Tschechoslowakei. 
 
„Die ersten vier Kongresse der Kommunistischen Internationale“, schrieb Trotzki, „hinterließen uns ein wertvolles programmatisches Erbe: die Charakterisierung und Analyse der gegenwärtigen Epoche als imperialistisch, d.h. als Höhepunkt und Beginn des Niedergangs des Kapitalismus; des modernen Reformismus und der Methoden zu seiner Bekämpfung; des Verhältnisses zwischen Demokratie und Diktatur des Proletariats; der Rolle der Partei in der proletarischen Revolution; des Verhältnisses zwischen dem Proletariat und dem Kleinbürgertum, insbesondere der Bauernschaft; der nationalen Frage und der Befreiung der Kolonialvölker; der Arbeit in den Gewerkschaften; der Politik der Einheitsfront; des Verhältnisses zum Parlamentarismus usw. Diese ersten vier Kongresse haben diese Fragen einer prinzipiellen Analyse unterzogen“. [22]
 
Die meisten Dokumente dieser Kongresse wurden von Lenin und Trotzki verfasst. Sie prägten nicht nur das theoretische Programm, sondern auch die Aktionen der kommunistischen Kräfte in aller Welt. Die Aufgabe des Internationalismus durch die stalinistische Bürokratie und dessen Ersetzung durch die Theorie des Sozialismus in einem Land war noch weit entfernt. 
 
In diesen Jahren hatte die Bourgeoisie des europäischen Kontinents große Probleme, gegen die Revolution anzukommen. Sie griffen nicht nur auf nackte Gewalt durch ihre Armeen zurück, sondern verließen sich auch zunehmend auf die sozialdemokratischen Führer, die mit Begeisterung die Arbeiteraufstände niederschlugen. Die Unerfahrenheit der oft jungen kommunistischen Parteien führten zu allen möglichen Fehlern.
 
Die Aufgabe der Kommunistischen Internationale und insbesondere ihrer fähigsten Führer wie Lenin und Trotzki bestand darin, die Kader der neuen Generation und die zukünftigen Führer im wahren Geiste des Bolschewismus auszubilden. Auf dem Zweiten Kongress, der zwischen dem 19. Juli und dem 7. August 1920 in Moskau stattfand, wurden dem opportunistischen Druck auf die Mitgliedschaft einundzwanzig Bedingungen entgegengesetzt, die von einem Mitglied der Internationale erfüllt werden mussten. Unter anderem wurde von den Organisationen, die der Internationale beitreten wollten, verlangt, einen klaren Bruch mit dem Pazifismus und der Politik der amerikanischen Imperialisten (Abrüstung, Völkerbund etc.) zu vollziehen und das bürokratische interne Regime der Zweiten Internationale abzulehnen. Die neue Kommunistische Internationale sollte keine Föderation autonomer Parteien sein, die im Klassenkampf entgegengesetzt zueinander handeln konnten. Stattdessen sollte sie auf der Grundlage eines gemeinsamen Programms, einheitlicher Aktion und des demokratischen Zentralismus als Weltpartei der sozialistischen Revolution aufgebaut werden.
 
Die Internationale musste nicht nur auf die Gefahren des Opportunismus reagieren. Die Ungeduld vieler Teile der neuen kommunistischen Bewegung gegenüber dem Verrat der alten reformistischen Parteien und ihr Unverständnis für die Politik des Bolschewismus und des Marxismus im Allgemeinen führte zum Aufkommen sektiererischer und ultralinken Tendenzen. Viele der entstehenden kommunistischen Parteien waren von dieser „Kinderkrankheit“, wie Lenin sie nannte, betroffen. Ein bemerkenswerter Fall war die deutsche Partei, die nach der Niederlage der Revolution und der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht über einen langen Zeitraum von diesen Tendenzen begleitet wurde.
 
Die grundlegenden Punkte, die die Linken in dieser Zeit verteidigten, sind dieselben wie heute: Sie sprachen sich gegen jede Art von Arbeit in den von den Reformisten kontrollierten Massenorganisationen aus und ermutigten alle Arten von organisatorischen Abkürzungen wie den Aufbau „roter Gewerkschaften“. Die Teilnahme an Parlamentswahlen und zugunsten des Wahlboykotts wurde unter allen Umständen für feindlich erklärt. Der Linksradikalismus, ein Spiegelbild von Ungeduld und Unerfahrenheit, war voller Gemeinplätze des Anarchismus.
 
Dem parlamentarischen Kretinismus stand der antiparlamentarische Kretinismus gegenüber; angesichts der Macht und des Einflusses der reformistischen Gewerkschaften begnügten sie sich damit, kleine Gewerkschaftssekten zu schaffen, die die vordersten Arbeiter isolierten und, weit davon entfernt waren, die Gewerkschaftsbürokratie zu schwächen, in Wirklichkeit dazu dienten, sie zu stärken. Die wichtigsten Vertreter dieser Zeit waren die KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands), der Ungar Béla Kun, die von Amadeo Bordiga in Italien angeführten Kommunisten, die Niederländer unter Gorter und Pannekoek und einige andere britische kommunistische Führer.
 
Das von Trotzki verfasste Manifest des Zweiten Kongresses unterstrich die Grundsätze der marxistischen Strategie gegen diese Politik:
 
,,Die Kommunistische Internationale ist die Weltpartei des proletarischen Aufstands und der proletarischen Diktatur. Sie hat keine Ziele und Aufgaben, die von denen der Arbeiterklasse selbst getrennt sind. Die Ansprüche winziger Sekten, von denen jede die Arbeiterklasse auf ihre Weise retten will, sind dem Geist der Kommunistischen Internationale fremd und feindlich gesinnt. Sie besitzt keine Allheilmittel oder Zauberformeln, sondern stützt sich auf die vergangenen und gegenwärtigen internationalen Erfahrungen der Arbeiterklasse; sie reinigt diese Erfahrung von allen Fehlern und Abweichungen; sie verallgemeinert die Eroberungen und erkennt und übernimmt nur solche revolutionären Formeln, die Formeln der Massenaktion sind.
 
Die Gewerkschaftsorganisation, der wirtschaftliche und politische Streik, der Boykott, die Parlaments- und Kommunalwahlen, das Parlamentsgericht, legale und illegale Agitation, Hilfsstützpunkte in der Armee, die Genossenschaft, die Barrikade - keine der von der sich entwickelnden Arbeiterbewegung geschaffenen Organisations- oder Kampfformen wird von der Kommunistischen Internationale abgelehnt, noch wird eine von ihnen als Allheilmittel herausgestellt und geheiligt.
 
Das sowjetische System ist kein abstraktes Prinzip, das die Kommunisten dem Prinzip des Parlamentarismus entgegensetzen. Das sowjetische System ist ein Klassenapparat, der dazu bestimmt ist, den Parlamentarismus abzuschaffen und seinen Platz während des Kampfes und als Ergebnis des Kampfes einzunehmen. Die Kommunistische Internationale führt einen gnadenlosen Kampf gegen den Reformismus in den Gewerkschaften und gegen parlamentarischen Kretinismus und Karrierismus und verurteilt gleichzeitig alle sektiererischen Vorladungen, die Reihen der millionenschweren Gewerkschaftsorganisationen zu verlassen oder den parlamentarischen und kommunalen Institutionen den Rücken zu kehren. Die Kommunisten trennen sich nicht von den Massen, die von den Reformisten und Patrioten getäuscht und verraten werden, sondern führen einen unversöhnlichen Kampf innerhalb der von der bürgerlichen Gesellschaft geschaffenen Massenorganisationen und -institutionen, um sie um so sicherer und schneller zu stürzen.” [23]
 
Lenin hat seinerseits seinen Standpunkt in seinem berühmten Buch ,,Der Linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ deutlich gemacht, das speziell für die Debatten des Kongresses vorbereitet wurde:
 
,,Gerade die absurde „Theorie“, wonach sich die Kommunisten an den reaktionären Gewerkschaften nicht beteiligen dürfen, zeigt am deutlichsten, wie leichtfertig sich diese „linken“ Kommunisten zur Frage der Beeinflussung der „Massen“ verhalten und wie sie mit ihrem Geschrei von den „Massen“ Mißbrauch treiben. Will man der „Masse“ helfen und sich die Sympathien, die Zuneigung, die Unterstützung der „Masse“ erwerben, so darf man sich nicht fürchten vor Schwierigkeiten, darf man sich nicht fürchten vor den Schikanen, den Fußangeln, den Beleidigungen und Verfolgungen seitens der „Führer“ (die als Opportunisten und Sozialchauvinisten in den meisten Fällen direkt oder indirekt mit der Bourgeoisie und der Polizei in Verbindung stehen) und muß unbedingt dort arbeiten, wo die Massen sind. Man muß jedes Opfer bringen und die größten Hindernisse überwinden können, um systematisch, hartnäckig, beharrlich, geduldig gerade in allen denjenigen – und seien es auch die reaktionärsten Einrichtungen, Vereinen und Verbänden Propaganda und Agitation zu treiben, in denen es proletarische oder halbproletarische Massen gibt. Die Gewerkschaften und die Arbeitergenossenschaften (diese wenigstens mitunter) sind aber gerade Organisationen, die Massen erfassen.
 
Millionen von Arbeitern in England, Frankreich, Deutschland gehen zum erstenmal von der vollständigen Unorganisiertheit zur elementaren, untersten, einfachsten (für diejenigen, die noch durch und durch von bürgerlich-demokratischen Vorurteilen erfüllt sind), zugänglichsten Organisationsform, nämlich zu den Gewerkschaften über, während die revolutionären, jedoch unvernünftigen linken Kommunisten danebenstehen, „Masse! Masse!“ schreien – und sich weigern, innerhalb der Gewerkschaften zu arbeiten!! Sie tun das unter dem Vorwand, die Gewerkschaften seien „reaktionär“!!, und klügeln eine nagelneue, blitzsaubere „Arbeiter-Union“ aus, die unbefleckt ist von bürgerlich-demokratischen Vorurteilen und frei von den Sünden zünftlerischer, eng beruflicher Beschränktheit, eine „Arbeiter-Union“, die angeblich eine Massenorganisation werden (werden!) soll und die als Aufnahmebedingung nur (nur!) die „Anerkennung des Rätesystems und der Diktatur“ (siehe die oben angeführte Stelle) fordert!!
 
Einen schlimmeren Unverstand, einen größeren Schaden für die Revolution, als ihn die „linken“ Revolutionäre anrichten, kann man sich gar nicht ausdenken!“ [24]
 
Der Kampf gegen diese Tendenzen dauerte mehrere Jahre innerhalb der Internationale an. Im Wesentlichen spiegelte es die mangelnde politische Reife, die mangelnde Erfahrung und den fehlenden Geist der neuen Organisationen wider, deren Direktionen nicht in der Lage waren, die Lehren des Bolschewismus und die Flexibilität ihrer Taktiken in ihrer ganzen Breite zu assimilieren. Als die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) im März 1921 ohne ausreichende Vorbereitung und Unterstützung der Massen in eine bewaffnete Offensive ging, besiegelte das die Niederlage der Revolution.
 
Der Dritte Internationale Kongress trat zwischen dem 22. Juni und dem 12. Juli 1921 in Moskau zusammen und sprach den Slogan der „Einheitsfront“ aus. Die Diskussion befasste sich eingehend mit der Weltlage nach dem Abebben der ersten großen revolutionären Welle nach dem Krieg (1917-1921) und der daraus resultierenden Wiederherstellung eines Großteils der verlorenen politischen Positionen durch die offizielle Sozialdemokratie. Die herrschende Klasse war prekär in der Lage, ihre Herrschaft wiederherzustellen, was den Aussichten der Kommunistischen Internationale auf einen schnellen Sieg in Europa einen schweren Schlag versetzte. Lenin und Trotzki, die sich bewusst waren, dass sich die Kräfteverhältnisse geändert hatten und mit den internen Schwierigkeiten der UdSSR konfrontiert waren, richteten die Politik der Kommunistischen Internationale neu aus, was auch mit einer Verschärfung der Wirtschaftskrise in Europa zusammenfiel. Die wichtigste Aufgabe bestand darin, den Aufbau kommunistischer Parteien voranzutreiben, feste Positionen in der Arbeiterbewegung zu erlangen und die Verteidigungskämpfe der Arbeiter zu führen.
 
Diese Neuorientierung wurde von den deutschen und niederländischen Linken, die die Politik der „Offensive“ befürworten, heftig kritisiert. Sie karikierten die Positionen Lenins und Trotzkis und verglichen sie mit denen der Menschewiki. Trotzki schrieb Texte über die Konjunktur jener Periode. Er betonte, dass ein zeitweiliger Rückschritt im Massenradikalisierungsprozess nach den politischen Niederlagen jener Jahre unvermeidlich sei, zu denen noch eine Wirtschaftskrise hinzukomme, die kurzfristig negative Auswirkungen haben könne. Trotzki betonte die Möglichkeit, die Parolen und Taktiken der Dritten Internationale an die konkreten Bedingungen der Zeit anzupassen. Man musste davon ausgehen, dass die revolutionäre Niederlage das Bild verändert hatte.
 
Trotzki ging auf die simplen und lächerlichen Ideen der deutschen Ultralinken ein, die nach der Niederlage im März 1921 völlig unangemessen waren, und betonte, dass es ein Fehler wäre, das aus den Augen zu verlieren, was die historische Periode eindeutig zeigte: eine dominante Tendenz zur Revolution. In jedem Fall musste die aktuelle Situation sorgfältig geprüft und Maßnahmen ergriffen werden, um die jungen kommunistischen Parteien unter den Massen zu stärken. Auf diese Weise konnten die Chancen der Zukunft genutzt werden.
 
Die allgemeine Einheitsfronttaktik verfolgte ein konkretes Ziel: die Arbeiterbasis der offiziellen sozialdemokratischen Organisationen zu erreichen. In dieser Periode der bürgerlichen Offensive war eine Verteidigungspolitik, die die Arbeiterbewegung vereinte, unerlässlich: „zusammen schlagen, getrennt marschieren“, den gemeinsamen Feind durch vereinbarte Aktionen zur Verteidigung konkreter Forderungen bekämpfen und die völlige Unabhängigkeit und Agitation zugunsten des kommunistischen Programms aufrechterhalten.
 
Der Vorschlag für eine einheitliche Aktion richtete sich nicht nur an die Basis der sozialdemokratischen Organisationen, sondern richtete sich auch öffentlich an ihre Führungen, wodurch die Kommunisten eine wirksame Agitation ihrer Vorschläge durchführen konnten. Die reformistische Bürokratie sowohl in den Gewerkschaften als auch in den sozialistischen Parteien reagierte heftig auf diese Forderungen und demonstrierte Millionen von Arbeitern, dass ihre Forderung nach Einheit eine demagogische Nebelwand war. Die Sozialdemokratie war nicht bereit, einen konsequenten Kampf für grundlegende wirtschaftliche und demokratische Reformen zu führen, obwohl diese der Bourgeoisie nur durch Methoden des Kampfes und revolutionäre Aktionen abgerungen werden können.
 
In den Monaten bis zum Vierten Kongress wurden die Fortschritte der Kommunistischen Internationale konsolidiert und erweitert. Bis 1922 hatte die Kommunistische Internationale bereits sechzig nationale Sektionen, die eine Militanz von fast drei Millionen zusammentrugen und über 700 Parteizeitungen verfügten. Auch in der kolonialen Welt, die von einer intensiven antiimperialistischen Bewegung und der nationalen Befreiung erschüttert wurde, wurden ernsthafte Fortschritte erzielt. Im Januar 1922 fand in Moskau der Kongress der fernöstlichen Arbeiter statt, der es ermöglichte, die ersten festen Verbindungen zwischen der Internationalen und der Arbeiterklasse Chinas und Japans herzustellen.
 
Der Vierte Kongress eröffnete seine Tagungen am 30. November in Moskau und schloss sie am 5. Dezember 1922, wobei er viele der auf dem vorhergehenden Kongress erörterten politischen Resolutionen bekräftigte. Die Debatte, die damals in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion über die Neue Wirtschaftspolitik (NEP) unter dem enormen Druck der wirtschaftlichen Schwierigkeiten nach dem Bürgerkrieg und dem Scheitern der Revolution in Europa stattfand, warf eine sehr wertvolle Lektion auf: Wie man mit taktischen Rückzügen auch nach der Machteroberung umgeht.
 
 
Die Isolation der Revolution und die wirtschaftliche Verwüstung
 
Die russische Arbeiterklasse zahlte einen sehr hohen Preis für die Niederlage der Revolution in Europa, vor allem der in Deutschland. Der sowjetische Staat wurde unter entsetzlichen materiellen Bedingungen isoliert, die zu unvorhergesehenen politischen Ereignissen führten. Der Zusammenbruch ihrer Wirtschaft, der durch jahrelange imperialistische Intervention erzwungen wurde, untergrub nach und nach die Grundlagen der Arbeiterdemokratie, die in den ersten Jahren der Revolution existierte.
 
Der marxistische Standpunkt vom Übergang zum Sozialismus geht von einer konkreten Annahme aus: Durch die Enteignung der Bourgeoisie und die Sozialisierung der Produktionsmittel unter der demokratischen Kontrolle der Arbeiterklasse können die Produktivkräfte mit großer Geschwindigkeit voranschreiten. Und das ist absolut notwendig, denn nur mit einer starken Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft und mit einer stetigen Steigerung der Arbeitsproduktivität können die materiellen Voraussetzungen für eine klassenlose Gesellschaft geschaffen werden. Sobald die arbeitende Bevölkerung vom täglichen Kampf ums Überleben befreit ist, kann sie ihre Kräfte und ihre Talente für die Verwaltung des gesellschaftlichen Lebens einsetzen: für Politik, Wirtschaft und Kultur. Ohne die Kontrolle und direkte Beteiligung der Massen kann es keine Arbeiterdemokratie, kein Regime der proletarischen Diktatur geben.
 
Der Klassenkampf innerhalb der UdSSR wurde in diesen ersten Jahren nicht unterbrochen. Von der Konterrevolution geschlagen und unter äußerst widrigen objektiven Bedingungen gestellt, enteigneten und verstaatlichten die Bolschewiki die überwiegende Mehrheit der Fabriken, errichteten das Außenhandelsmonopol und setzten eine Arbeitsverwaltung ein. Aber die wirtschaftlichen Unzulänglichkeiten waren sehr groß. Der Warenaustausch zwischen dem Land und der Stadt wurde drastisch reduziert. Die gesamte Produktion wurde einem Militärregime unterworfen, und um eine gerechte Verteilung zu gewährleisten, wurde die Bevölkerung in Genossenschaften zusammengefasst, die den staatlichen Institutionen unterstellt waren. Dieses Paket wurde als Kriegskommunismus bezeichnet.
 
Diese schmerzlichen Umstände schwächten die Arbeiterklasse, und ihr gesellschaftliches Gewicht wurde stark geschwächt. 1919 sank der Anteil der Bauarbeiter um 66% und der Anteil der Eisenbahnarbeiter um 63% im Vergleich zur Zeit vor dem Weltkrieg. Die Zahl der Industriearbeiter sank von drei Millionen im Jahre 1917 auf 1.240.000 im Jahre 1920. Lenin beschrieb die Situation wie folgt:
 
,,Das Industrieproletariat ist durch Krieg, Armut und verzweifelten Untergang kollabiert, d.h. aus seiner Klassenroutinen verdrängt worden, hat aufgehört, als Proletariat zu existieren. Das Proletariat ist die Klasse, die an der Produktion materieller Güter in der kapitalistischen Großindustrie beteiligt ist. In dem Maße, wie die Großindustrie zerstört wurde, die Fabriken stillstehen, ist das Proletariat verschwunden. Manchmal taucht es in den Statistiken auf, aber es ist wirtschaftlich nicht zusammengehalten worden." [25]
 
In seinen Schriften über die Revolution von 1917 definierte Lenin die politischen Bedingungen für den Aufbau eines Arbeiterstaates im Übergang: 1) Freie und demokratische Wahlen für alle Staatsämter. 2) Abberufung aller öffentlichen Ämter. 3) Kein Beamter erhält ein Gehalt, das über dem eines Facharbeiters liegt. 4) Alle Managementaufgaben der Gesellschaft werden schrittweise von der gesamten Bevölkerung nach dem Rotationsprinzip übernommen.
 
,,Machen wir die Staatsbeamten zu einfachen Vollstreckern unserer Aufträge“, so Lenin, „zu verantwortlichen, absetzbaren, bescheiden bezahlten „Aufsehern und Buchhaltern“ (dazu natürlich Techniker jeder Art, jeden Ranges und Grades) - das ist UNSERE proletarische Aufgabe, damit kann und muß man bei der Durchführung der proletarischen Revolution BEGINNEN.“ [26]
 
Nach einem brutalen Bürgerkrieg, zu dem noch die früheren Verwüstungen des Weltkrieges und das kriminelle Embargo der Imperialisten gegen Sowjetrussland hinzukamen, waren die Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieses Programms offensichtlich. Bis zum Ende des Bürgerkriegs (1921) war die Kohleförderung um 30% unter das Vorkriegsniveau gefallen, die Stahlförderung erreichte kaum 5% und die gesamte Fabrikproduktion machte nur ein Drittel aus.  Der Schienenverkehr wurde verschoben, was die unglückliche Situation des Handels zwischen Stadt und Land noch verschlimmerte. Die durchschnittliche Getreideproduktion in den Jahren 1920-1921 war nur halb so hoch wie in den Jahren unmittelbar vor 1914, und um die Sache noch schlimmer zu machen, wurde Südrussland von einer großen Dürre heimgesucht, was zu einem Rückgang der Lebensmittelrationen führte. 1921 breitete sich die Hungersnot im ganzen Land aus und hinterließ Millionen von Toten.
 
Bald kam es zu Ausbrüchen und Demonstrationen der Unzufriedenheit zwischen Teilen der Bauernschaft und der Arbeiterklasse. Im Jahre 1921 kam es zu einem Bauernaufstand in Támbov; im selben Jahr erhob sich die Kronstädter Marinegarnison gegen die Macht der Sowjets. Diese Bedrohung der Revolution war noch ernster als die imperialistische Aggression.
 
Die materiellen Bedingungen eines zerstörten Russlands rebellierten gegen die Arbeiterdemokratie. In vielen Fällen funktionierten die sowjetischen Strukturen nicht mehr, die Sowjets als Organe der Arbeitermacht gingen zurück oder wurden durch Parteikomitees ersetzt. Die Aufgaben der Staatsverwaltung wurden in zunehmendem Maße von einer wachsenden Zahl alter Beamten des zaristischen Regimes übernommen, während die besten kommunistischen Kader an der Front als rote Kommissare dienten oder dem Wiederaufbau der Wirtschaft gewidmet waren.
 
Lenin beobachtete mit großer Sorge den Verlauf der Ereignisse. Auf dem Vierten Kongress der Kommunistischen Internationale warnte er:
 
,,Wir haben den alten Staatsapparat übernommen, und das war unser Unglück. Wir haben jetzt eine enorme Masse von Angestellten, aber wir haben noch nicht genügend gebildete Kräfte, um wirklich über sie zu verfügen.  Oben haben wir, ich weiß nicht wieviel, aber ich glaube sicher, nur einige tausend (...) unten dagegen haben wir Hunderttausende alter, vom Zaren, aber auch von der bürgerlichen Gesellschaft übernommene Beamte (…).” [27]
 
In anderen Schriften betonte er den gleichen Gedanken:
 
,,Wir verjagten die alten Bürokraten, aber sie sind wiedergekommen, sie nennen sich „Kammunisten“, wenn sie Kommunist nicht sagen können, sie hängen sich ein rotes Bändchen an und drängen sich auf die warmen Plätzchen. Was ist da zu machen? Immer und immer wieder gegen diesen Unrat ankämpfen, immer wieder, wenn dieser Unrat eingedrungen ist, mit Hilfe von kommunistischen Arbeitern, mit Hilfe von Bauern, die man nicht erst seit gestern kennt, säubern, davonjagen, überwachen und untersuchen.” [28]
 
Die enormen sozialen Spannungen, die Unzufriedenheit zwischen Bauernschaft und Arbeiterklasse, die allgemeine Knappheit und Stagnation der Produktion zwangen die Bolschewiki zum Rückzug. 1921 wurde die Neue Wirtschaftspolitik (NEP) verabschiedet: Um den Handel mit dem Land wieder herzustellen und den unerträglichen sozialen und wirtschaftlichen Druck auf den Arbeiterstaat zu mindern, wurden Zugeständnisse an die Sektoren des Kleinbürgertums in Stadt und Land gemacht. Später würden Zugeständnisse zu einer Bedrohung für das Sowjetsystem werden.
 
 
Rückgang des „Plebejerstolzes“
 
Die NEP kann nur aus der Perspektive der feindlichen Bedingungen verstanden werden, die mit dem Aufbau des Sozialismus in Russland in einer Situation internationaler Isolation verbunden sind. Auf dem X. Kongress der KPdSU wurde die Ersetzung des Systems der Zwangsanforderung von Getreide durch eine Sachsteuer angekündigt, mit der die Bauern einen Überschuss für den Handel auf dem Markt haben könnten. Ziel war es, die Agrarwirtschaft anzukurbeln. Anfangs war es eine begrenzte Erfahrung und der Planwirtschaft untergeordnet: Der Staat konzentrierte weiterhin die Schwerindustrie, die Kommunikation, das Bankwesen, das Kreditsystem, den Außenhandel und einen überwiegenden Teil des Binnenhandels in seinen Händen.
 
Dieser erzwungene Rückzug bestätigte die Worte des jungen Marx:
 
,,Andrerseits ist diese Entwicklung der Produktivkräfte (womit zugleich schon die in weltgeschichtlichem, statt der in lokalem Dasein der Menschen vorhandne empirische Existenz gegeben ist) auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und in diesem Zwiespalt begegnen die ganze alte Scheiße sich herstellen müßte (....)”. [29]
 
1923 nahm die Divergenz zwischen Industrie- und Agrarpreisen zu. Die Arbeitsproduktivität in der Industrie war sehr niedrig, was hohe Preise für hergestellte Produkte verursachte, während gleichzeitig die Vorteile der Kleinbauern nicht ausreichten, um ihnen Zugang zu diesen Produkten zu verschaffen. Gleichzeitig stärkten die Kulaken – wohlhabende Bauern – ihre Position auf dem Markt, indem sie vom Kleinproduzenten kauften und Getreide horteten, und wurden so zum einzigen Gesprächspartner des Staates in der ländlichen Welt. Dies spiegelte sich auch in den lokalen Sowjets wider, in denen der Einfluss der Kulaken zunahm. Pro-bürgerliche Tendenzen wuchsen auf dem Land und entwickelten sich parallel zu Spekulationen in den Städten.
 
Parallel und im Zusammenhang mit diesem Prozess der privaten Akkumulation nutzte die Staats- und Parteibürokratie – insbesondere ihre höheren Schichten – ihre Position aus, um materielle Vorteile zu erlangen und sich allmählich von der Kontrolle der Arbeiterklasse zu lösen. Die internen und externen Schwierigkeiten wurden zur treibenden Kraft seines politischen Triumphs.
 
Nach einer Zeit kolossaler Opfer wurden die großen Hoffnungen auf den Sieg des europäischen Proletariats zunichte gemacht. Der ganze Druck der revolutionären Niederlagen in Europa führte zu einer tiefen Erschöpfung der Kräfte der sowjetischen Arbeiter, die ihrerseits eine Phase des Rückzugs einleitete. Dieser politische Faktor und die Demobilisierung von Millionen von Soldaten der Roten Armee spielten eine entscheidende Rolle beim Wachstum des bürokratischen Apparats. Trotzki analysierte die Dynamik dieses Prozesses:
 
,,Sie [die Reaktion] wuchs in einer Reihe aufeinanderfolgender Kriege. Äußere Bedingungen und Ereignisse nährten sie um die Wette. Intervention folgte auf Intervention. Vom Westen her kam keine direkte Hilfe. Statt des erhofften Wohlergehens trat bitterste Not auf lange Zeit im Lande die Herrschaft an.
 
Außerdem waren die hervorragendsten Vertreter der Arbeiterklasse entweder im Bürgerkrieg umgekommen. oder sie hatten sich um einige Grade über die Massen erhoben und von ihnen losgelöst. So folgte auf eine beispiellose Anspannung der Kräfte, Hoffnungen und Illusionen eine lange Periode der Müdigkeit, Niedergeschlagenheit und direkter Enttäuschung über die Resultate des Umsturzes. Das Verebben des „plebejischen Stolzes“ machte einer Flut des Kleinmuts und des Strebertums Platz. Auf dieser Welle schwang sich eine neue kommandierende Schicht empor.
 
Eine nicht geringe Rolle bei der Herausbildung der Bürokratie spielte die Demobilmachung der fünfmillionenköpfigen Roten Armee: die siegreichen Kommandeure besetzten die leitenden Posten in den lokalen Sowjets, in der Wirtschaft, im Schulwesen und führten überall mit Nachdruck das Regime ein, dem die Siege des Bürgerkriegs zu verdanken waren. So wurden die Massen allenthalben allmählich von der faktischen Beteiligung an der Leitung des Landes ausgeschaltet.
Die innere Reaktion im Proletariat erzeugte eine außerordentliche Flut von Hoffnungen und Selbstvertrauen in den kleinbürgerlichen Schichten von Stadt und Land, die durch die NEP zu neuem Leben erwacht waren und immer dreister den Kopf hoben, Die junge Bürokratie, ursprünglich als Agentur des Proletariats entstanden begann sich nun als Schiedsrichter zwischen den Klassen zu fühlen. Ihre Selbständigkeit nahm von Monat zu Monat zu.
 
In der gleichen Richtung wirkte, und zwar mit großer Kraft, die internationale Lage. Die Sowjetbürokratie wurde um so selbstsicherer, je heftigere Schläge die Weltarbeiterklasse trafen. Zwischen diesen Tatsachen besteht nicht nur ein chronologischer, sondern auch ein ursächlicher Zusammenhang, und zwar in doppelter Richtung: die Bürokratie trug durch ihre Führung zu den Niederlagen bei, und die Niederlagen erleichterten den Aufstieg der Bürokratie.” [30]
 
 
Der letzte Kampf von Lenin
 
Zwischen Januar 1922 und März 1923 verschlechterte sich Lenins Gesundheitszustand erheblich. Umgeben von den Angriffen führte der bolschewistische Führer einen zähen Kampf gegen den Wundbrand der Bürokratie. Seine Schriften aus dieser Zeit zeugen von einem radikalen Wandel in der Haltung gegenüber Stalin, den er schnell als Inbegriff des Autoritarismus und der bürokratischen Ineffizienz identifizierte, zu deren Bekämpfung er aufgerufen hatte. Die Art und Weise, wie er die Arbeiter- und Bauerninspektion leitete – eine Organisation, die in der Theorie gegründet worden war, um bürokratische Abweichungen zu bekämpfen, die aber in der Praxis zu einem Zentrum für die Anwerbung von Karrieristen und Profiteuren wurde – sowie die Art und Weise, wie er die nationale Frage in Georgien anpackte und den großen russischen Chauvinismus zeigte, den Lenin immer verachtet und bekämpft hatte, überzeugte ihn von der Notwendigkeit, seinen letzten, aber nicht weniger wichtigen Kampf zu führen.
 
„Unser schlimmster innerer Feind ist der Bürokrat, und der Bürokrat ist der Kommunist, der einen verantwortungsbewussten (und auch unverantwortlichen) sowjetischen Posten innehat. Wir müssen diesen Feind loswerden.“ [31]
 
Ende Mai erlitt Lenin einen Anfall, der seinen rechten Arm und sein rechtes Bein teilweise lähmte und das Sprechen erschwerte. Sein Rückzug aus der praktischen Führung des Staates und der Partei fiel mit zunehmend kühnen Fortschritten des bürokratischen Apparats zusammen. Als Generalsekretär begann Stalin, eine breite Schicht von Beamten zu umwerben, die er in eine Masse loyaler Untergebener verwandelte. Und er tat dies, indem er Maßnahmen ergriff, um ihre Loyalität zu gewährleisten: Im Juli 1922 schuf er eine Gruppe von Inspektoren, die für die Kontrolle der Provinzanweisungen der Partei zuständig waren, und es gelang ihm, 15.500 hochrangige Kader dazu zu bringen, wesentliche materielle Vorteile zu erzielen, dreimal mehr Gehalt als ein Industriearbeiter, zusätzliche Lose von schwer zu findenden Lebensmitteln, bezahlten Urlaub… [32]
 
Stalin, der auch das Amt des Volkskommissars für die Nationalitäten innehatte, legte im September 1922 sein Projekt der Sowjetunion vor, in dem den „Schwesterrepubliken“ Russlands eine Art unpräzise Autonomie zugestanden wurde. Am 15. jenes Monats lehnte das Zentralkomitee der georgischen Kommunistischen Partei Stalins Formel ab, eine Haltung, die dieses als „nationalistische Abweichung“ gegenüber Lenin selbst verurteilte, der nur teilweise über die Diskussion informiert wurde. 
 
Als Lenin am 25. September in der Lage war, die von Stalin ausgearbeiteten Materialien zu lesen, zögerte er nicht, sie gründlich zu korrigieren und zahlreiche bolschewistische Führer zur Behandlung der Angelegenheit einzuberufen.
 
Ende desselben Monats schrieb Lenin einen Brief an das Politbüro, in dem er vorschlug, dass die verschiedenen Republiken gleichberechtigt mit Russland Teil der Sowjetunion sein sollten. Sofort traf er mit den georgischen kommunistischen Führern zusammen, um ihnen ihre Unterstützung gegen die Forderungen Stalins zu sichern. Am 6. Oktober billigte das Zentralkomitee den von Lenin abgeänderten Entwurf, der zur Gründung der UdSSR am 30. Dezember 1922 führen sollte. In der Hitze dieser intensiven Diskussion schrieb Lenin an Kamenjew: „Ich erkläre dem russischen Chauvinismus nicht für immer, sondern bis zum Tod den Krieg...“
 
Die Beziehungen zwischen Lenin und Stalin verschlechterten sich schlagartig. Im Bewusstsein der Bedrohung, die von der Macht ausging, die Stalin konzentriert hatte, griff er zu immer eifrigeren Kontakten mit Trotzki und schlug ihm offen vor, einen gemeinsamen Kampf gegen den Vormarsch des Bürokratismus aufzunehmen. In einem seiner letzten Auftritte anlässlich seiner Rede vor dem Vierten Kongress der Kommunistischen Internationale prangert Lenin ironisch die von Sinowjew verfasste Resolution über die Struktur und die Organisationsmethoden der Kommunistischen Parteien an und wirft den russischen Parteibürokraten eine tiefe Anklage entgegen: „Diese Resolution ist ausgezeichnet, aber sie ist fast ausgesprochen russisch (.....) Das ist schlecht deshalb, weil ich überzeugt bin, daß fast kein Ausländer sie lesen kann (.....) Mein Eindruck ist, daß wir mit dieser Resolution einen großen Fehler gemacht haben, nämlich daß wir uns selbst den Weg zu einem weiteren Fortschritt versperrt haben”. [33]
 
Als Reaktion auf die Kühnheit der georgischen Kommunisten und die Unterstützung, die Lenin ihnen gewährte, beschloss Stalin, seine eigene politische Rache zu organisieren. Er schickte seinen „Prokonsul“ Ordschonikidse, um die Parteiführer in Georgien auf den Pfad zu bringen, aber dieser geht zu weit und schlägt einige seiner Gesprächspartner. Der Vorfall und die brutale, „großrussische“ Art und Weise, in der Stalins Stellvertreter sich verhält, führten am 22. November zum Rücktritt des Zentralkomitees der georgischen Partei.
 
Lenin erfuhr zu spät von den Einzelheiten dieser Geschehnisse, während eine andere Debatte seine volle Aufmerksamkeit auf sich zog: Bucharin hatte sich für eine Abschwächung des Außenhandelsmonopols ausgesprochen und wurde von anderen Mitgliedern des Politbüros, einschließlich Stalin, unterstützt. Lenin lehnte dieses Zugeständnis – ein Großangriff gegen die Planwirtschaft – entschieden ab und schlug Trotzki einen Block vor, um das Monopol vor dem Zentralkomitee der Partei kompromisslos zu verteidigen. 
 
In diesen Wochen verstärkte Lenin seine Korrespondenz mit Trotzki, der über die Ereignisse alarmiert ist. Stalin, der weiß, was vor sich geht, rügt Krupskaja mit unhöflichen und harschen Worten und wirft ihr vor, die ärztlichen Vorschriften nicht zu beachten, die Lenin von jeder Tätigkeit isolieren sollten. Ende Dezember 1922 erlitt Lenin weitere Angriffe, und obwohl seine Arbeitsfähigkeit stark eingeschränkt war, war er in der Lage, die Kräfte zu bündeln, um seinen Sekretären eine Reihe von Briefen an den XIII. Parteitag zu diktieren, die ununterbrochen bis zum 7. Februar 1923 folgten.
 
Diese Korrespondenz ist als das Testament Lenins in die Geschichte eingegangen. Er weist in diesem Zusammenhang warnend darauf hin:
 
,,Gen. Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermeßliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, daß er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen.“
 
In dem am 26. Dezember herausgegebenen Brief reflektiert er erneut die Art des Staates, der in der UdSSR existiert, und qualifiziert ihn als „Erbe des alten Regimes“. [34]
 
Sechs Tage später kehrt er zu demselben Thema zurück: 
 
,,Jetzt aber müssen wir, wenn wir ehrlich sein wollen, umgekehrt sagen, daß wir einen Apparat als eigenen bezeichnen, der uns in Wirklichkeit noch durch und durch fremd ist und ein bürgerlichzaristisches Gemisch darstellt, das wir beim besten Willen in den fünf Jahren nicht überwinden konnten, in denen uns die Hilfe anderer Länder fehlte und wir uns vorwiegend militärisch „betätigten“ und die Hungersnot bekämpften.” [35]
 
In den Briefen vom 29. und 31. Dezember erweitert Lenin seinen Angriff auf Stalin, auf den er hinweist, dass er den großen russischen Chauvinismus verkörpert und sich weigert, „die Notwendigkeit zuzugeben, dass die unterdrückende Nation das Recht der unterdrückten Nation auf Selbstbestimmung anerkennen muss“, und verurteilt „den Georgier, der andere verächtlich des „Sozialchauvinismus“ beschuldigt, obwohl er selbst nicht nur ein wahrer und echter „Nationalsozialist“, sondern ein grober großer russischer blinder Passagier ist.“
 
Am 4. Januar 1923 setzte er seine Anprangerung fort, indem er erklärte, Stalin sei
,,zu grob, und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte, und jemand anderen an diese Stelle zu setzen, der sich in jeder Hinsicht von Gen. Stalin nur durch einen Vorzug unterscheidet, nämlich dadurch, daß er toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer, weniger launenhaft usw. ist.” [36]
 
Anfang März 1923 folgten zwei Ereignisse von großer Bedeutung. Auf der einen Seite legte er Trotzki einen Vorschlag vor, um auf dem bevorstehenden Parteitag eine gemeinsame Position zur nationalen Frage zu verteidigen, und schrieb einen kurzen Brief an die georgischen Genossen, der eine ganze Grundsatzerklärung ist:
 
„Ich folge eurer Sache mit ganzem Herzen. Ich bin beeindruckt von Ordschonikizdes Unhöflichkeit und Stalins und Dzerzhinskis Einverständnis. Ich bereite Notizen und eine Rede für euch vor.“
 
Zum anderen erfuhr er von Stalins beleidigendem Telefonanruf an Krupskaja vom 22. Dezember. Seine Antwort ließ nicht auf sich warten:
 
„An Genossen Stalin.
 
Streng vertraulich.
 
Persönlich
 
Kopie an die Genossen Kamenev und Zinov'ev
 
Werter Gen. Stalin!
 
Sie besaßen die Grobheit, meine Frau ans Telefon zu rufen und sie zu beschimpfen. Obwohl sie sich Ihnen gegenüber bereit erklärt hat, das Gesagte zu vergessen, haben Zinov'ev und Kamenev diese Tatsache durch sie selbst erfahren. Ich habe nicht die Absicht, so leicht zu vergessen, was man mir angetan hat, und selbstverständlich betrachte ich das, was man meiner Frau angetan hat, als etwas, das auch mir angetan wurde. Deshalb bitte ich Sie zu erwägen, ob Sie bereit sind, das Gesagte zurückzunehmen und sich zu entschuldigen, oder ob Sie es vorziehen, die Beziehungen zwischen uns abzubrechen.
 
Hochachtungsvoll Lenin
 
5. März 1923.“ [37]
 
Diese ganze Korrespondenz blieb vor der Partei verborgen, bis Nikita Chruschtschow sie auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956 teilweise enthüllte.
 
Aber Lenin wurde am 6. März wieder krank und vier Tage später erlitt er einen fast vollständigen Schlaganfall, der ihn zum Schweigen brachte. Nach zehn Monaten völliger Niederwerfung starb er am 24. Januar 1924.
 
Das Verschwinden Lenins brachte eine bedeutende Bewegung der „Heiligsprechung“ aus dem herrschenden Apparat hervor, die sehr nützlich war, um den späteren Personenkult in der allgegenwärtigen Figur Stalins vorzubereiten. Als Sinowjew vorschlug, Petrograd in Leningrad umzubenennen, oder trotz Krupskajas Widerstand der Einbalsamierung der Leiche zugestimmt wurde, beschritt die Bürokratie einen Bruch mit allem, was Lenin im Leben darstellte. Viele protestierten gegen solche Handlungen, wenn man bedenkt, was immer der bescheidene, strenge und menschliche Weg des Oktober-Führers war. Der Dichter Wladimir Majakowski prangerte die neue bürokratische Liturgie an:
 
„Wir stimmen mit den Eisenbahnern von Rjasan überein, 
die dem Dekorateur vorgeschlagen haben, 
den Lenin-Raum seines Clubs ohne Büste und Porträt zu realisieren 
und zu sagen:
‚Wir wollen keine Ikonen!‘ 
Machen Sie Lenin nicht zu einem Bild. 
Druckt sein Porträt nicht auf die Plakate,
die Steinkohle, die Untersetzer, die Gläser, die Meißel. 
Formt ihn nicht in Bronze. 
Studiert Lenin, kanonisiert ihn nicht. 
Ihr glaubt nicht an einen Kult um den Namen eines Mannes, 
der sein ganzes Leben gegen die Kulte aller Arten gekämpft hat. 
Handelt nicht mit Kultgegenständen. 
Verkauft Lenin nicht!" [38]
 
 
 
Anmerkungen:
 
 
[1] Eigene Übersetzung, aus „How the revolution armed“, Militärschriften Trotzkis Band I.
[2] Eigene Übersetzung, ebd.
[3] Eigene Übersetzung, aus dem spanischen Vorwort zu Isaac Deutschers „The Prophet Armed“.
[4] Der Soldatenschwur der Roten Armee wurde am 22. April 1918 vom Allrussischen Exekutivkomitee der Sowjets durch die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernabgeordneten beschlossen.
[5] Leo Trotzki, „Mein Leben“.
[6] Ebd.
[7] Ebd.
[8] Eigene Übersetzung, aus Isaac Deutschers „The Prophet Armed“.
[9] Leo Trotzki, „Mein Leben. Die Verteidigung Petrograds.“
[10] Ebd.
[11] Ebd.
[12] Ebd.
[13] W. I. Lenin: „Rede auf der erweiterten Konferenz von Arbeitern und Rotarmisten im Moskauer Rogoshsko-Simonowski-Stadtbezirk 13. Mai 1920.“ Werke, Band 31, Berlin 1966: S. 125.
[14] Eigene Übersetzung, aus Isaac Deutschers „The Prophet Armed“.
[15] Isaac Bábel: Rote Kavallerie. Bábel, einer der großen Prosaisten der Revolution, wurde am 17. Januar 1940 auf Befehl Stalins als Trotzkist und „französischer Spion“ hingerichtet.
[16] Leo Trotzki, „Mein Leben“.
[17] Freikorps: Paramilitärische Gruppen, bestehend aus royalistischen und rechten Offizieren, Soldaten und Freiwilligen, die später den Kern der Sturmabteilungen und Schutzstaffeln der NSDAP bilden sollten.
[18] Konferenz von Zimmerwald: Die erste Internationale Sozialistische Konferenz fand vom 5. Bis 8. September 1915 in Zimmerwald in der Schweiz statt. Auf ihr begegneten sich die revolutionären Internationalisten unter Lenin und die Versöhnler und Pazifisten unter Kautsky, der mit der SPD gebrochen hatte. Lenin und andere Revolutionäre bildeten die sogenannte „Zimmerwalder-Linke“, die für den revolutionären Defätismus eintrat. Trotzki, der zu dieser Zeit noch kein Bolschewik war, verfasste das Manifest der Konferenz, indem er den Weltkrieg als imperialistisch analysierte und das Verhalten der Sozialisten kritisierte, die in bürgerliche Regierungen eingetreten waren oder für die Kriegskredite gestimmt hatten. Er rief die europäische Arbeiterbewegung dazu auf, gegen den Krieg und für einen Frieden ohne Annexionen oder Reparationen zu kämpfen. 
Konferenz von Kienthal: Die zweite Internationale Sozialistische Konferenz fand vom 24. Bis 30. April 1916 in einer anderen Schweizer Stadt, Kienthal, statt. Hier trat der linke Flügel geschlossener und stärker als in Zimmerwald auf. Auf Drängen Lenins wurde eine Resolution verabschiedet, die den Sozialchauvinismus und Opportunismus der Führer der Zweiten Internationale kritisierte. Das Konferenzmanifest und die in Kienthal verabschiedeten Resolutionen waren ein neuer Schritt in der Entwicklung der internationalen Antikriegsbewegung. Zimmerwald und Kienthal trugen dazu bei, die Marxisten in der internationalen Sozialdemokratie zusammen zu führen. Ihre Zusammenarbeit bildete die Basis für die Gründung der Kommunistischen Internationale 1919.
[19] W. I. Lenin: „Die Dritte Internationale und ihr Platz in der Geschichte“. Werke Band 29, Berlin 1984: S. 295.
[20] Begriff für Organisationen oder Personen, die sich in einer Zwischenposition („Zentrum“) zwischen Reformismus und Marxismus befinden, entweder weil sie sich vom Ersten zum Zweiten entwickeln oder umgekehrt.
[21] Frei übersetzt nach: La Internacional Comunista, Tesis manifiestos y resoluciones de los cuatro primeros congresos (1919-1922), FUNDACIÓN FEDERICO ENGELS, Madrid 2009 p. 39.
[22] Frei übersetzt nach: Los cinco primeros años de la Internacional Comunista, Editorial Pluma, Buenos Aires, 1974.
[23] Leo Trotzki, „Die ersten fünf Jahre der Kommunistischen Internationale“.
[24] W. I. Lenin, „Der Linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus“. Werke Band 31, S. 38-39.
[25] Frei übersetzt nach Ted Grant, Russland. Von der Revolution zur Konterrevolution, FEDERICO ENGELS, Madrid 1997, S. 84.
[26] W. I. Lenin, „Staat und Revolution“, Werke Band 25, S. 439.
[27] W. I. Lenin, Werke Band 33, S 413, 415.
[28] W. I. Lenin, Werke Band 29, 15.
[29] Karl Marx, MEW Band 3, S.34-35.
[30] Leo Trotzki, „Verratene Revolution“.
[31] W. I. Lenin, Werke Band 33, S. 211.
[32] Siehe ebd., S. 353.
[33] Siehe ebd.
[34] W. I. Lenin, Werke Band 36, S. 579.
[35] Ebd.
[36] Ebd., S.580.
[37] Zitiert aus: Rede des Ersten Sekretärs des CK der KPSS, N. S. Chruščev auf dem XX. Parteitag der KPSS ["Geheimrede"] und der Beschluß des Parteitages "Über den Personenkult und seine Folgen", 25. Februar 1956.
[38] Frei übersetzt nach: Jean-Jacques Marie, Lenin, POSI-Ausgaben, Madrid, 2008, S. 345.

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