Aus: In: V. I. Lenin: Werke, Berlin (Ost) 1956-1964, Bd. 16, S.309ff.

Über den Magdeburger Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist in allen Zeitungen schon viel geschrieben worden, und alle wichtigen Ereignisse dieses Parteitags, alle Peripetien des Kampfes sind hinlänglich bekannt. Die äußere Seite des Kampfes zwischen Revisionisten und Orthodoxen, die dramatischen Episoden auf diesem Parteitag haben die Aufmerksamkeit der Leser auf Kosten der Klarlegung der prinzipiellen Bedeutung dieses Kampfes, der ideologisch-politischen Wurzeln der Divergenzen allzu stark in Anspruch genommen. Indes liefern die Magdeburger Debatten, vor allem die Debatten über die Stimmabgabe der Badenser für das Budget, ein äußerst interessantes Material, das zwei Ideenwelten und zwei Klassentendenzen innerhalb der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei charakterisiert. Die Budgetbewilligung ist lediglich eine der Ausdrucksformen dieser Divergenz zwischen den zwei Welten, einer Divergenz, die so groß ist, daß sie zweifellos noch bei viel ernsteren, tief ergehenden und wichtigeren Anlässen in Erscheinung treten wird. Und jetzt, da in Deutschland für alle sichtbar ein großer revolutionärer Sturm herannaht, sind die Magdeburger Debatten als kleine Heerschau eines kleinen Teils der Armee (denn die Frage der Budgetbewilligung ist nur ein kleiner Teil der Grundfragen der sozialdemokratischen Taktik) vor Beginn des Gefechts zu betrachten.

Was hat diese Heerschau gezeigt, wenn es sich darum handelt, wie die verschiedenen Teile der proletarischen Armee ihre Aufgaben verstehen? Was sagt uns diese Heerschau über das künftige Verhalten dieser verschiedenen Teile der Armee? Das sind die Fragen, auf die wir eingehen wollen.

Beginnen wir mit dem Zusammenstoß in einer (auf den ersten Blick) untergeordneten Frage. Der Führer der Revisionisten, Frank, betonte wie alle Badenser mit Eifer, daß der Minister von Bodman die „Gleichberechtigung" der Sozialdemokratie mit anderen, bürgerlichen Parteien anfangs nicht anerkannt, später aber diese „Beleidigung" gewissermaßen zurückgenommen habe. In seinem Referat führte Bebel darüber folgendes aus: „Wenn ein Minister des heutigen Staates, ein Vertreter der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung - und der heutige Staat hat als politische Institution den Zweck, die Verteidigung und Aufrechterhaltung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung gegen alle Angriffe von sozialdemokratischer Seite zu übernehmen, nötigenfalls mit Gewalt - , wenn also ein solcher Minister sagt, er anerkenne diese Gleichberechtigung nicht, so hat er von seinem Standpunkt aus ganz recht." Frank unterbricht Bebel und ruft :„Unerhört!" Bebel setzt fort und antwortet ihm: „Ich finde das ganz natürlich." Frank macht einen erneuten Zwischenruf: „Unerhört!"

Warum war Frank so empört? Weil er vom Glauben an die bürgerliche „Gesetzlichkeit", an die bürgerliche „Gleichberechtigung" völlig durchdrungen ist, ohne die historischen Grenzen dieser Gesetzlichkeit zu begreifen, ohne zu begreifen, daß diese ganze Gesetzlichkeit zerschellen, unvermeidlich zerschellen muß, sobald es auf die wichtigste und hauptsächliche Frage, auf die Erhaltung des bürgerlichen Eigentums, ankommt. Frank ist ganz und gar von kleinbürgerlichen Verfassungsillusionen durchdrungen; deshalb begreift er nicht die historische Bedingtheit der konstitutionellen Verhältnisse selbst in einem Lande wie Deutschland; er glaubt an die absolute Bedeutung, an die absolute Macht der bürgerlichen (richtiger: bürgerlich-feudalen) Verfassung in Deutschland und ist ehrlich beleidigt, weil ein konstitutioneller Minister nicht anerkennen will, daß er, Frank, ein Parlamentsabgeordneter, ein Mensch, der in vollem Einklang mit den Gesetzen handelt, „gleichberechtigt" ist. Sich an dieser Gesetzlichkeit berauschend, geht Frank so weit, daß er die Unversöhnlichkeit von Bourgeoisie und Proletariat vergißt und, ohne es selbst zu merken, auf die Positionen derer übergeht, die diese bürgerliche Gesetzlichkeit für ewig halten, die glauben, der Sozialismus könne im Rahmen dieser Gesetzlichkeit Platz finden.

Bebel stellt die Dinge auf ihren Platz, von dem Boden dieser, der bürgerlichen Demokratie eigenen Verfassungsillusionen auf den realen Boden des Klassenkampfes. Kann es denn eine „Beleidigung" sein, wenn uns, den Feinden der gesamten bürgerlichen Ordnung, ein Verteidiger dieser Ordnung die Gleichberechtigung auf dem Boden des bürgerlichen Rechts abspricht? Schon allein die Annahme, daß mich das beleidigen kann, zeugt von der Unbeständigkeit meiner sozialistischen Überzeugungen!

Und Bebel bemüht sich, Frank die sozialdemokratischen Auffassungen durch anschauliche Beispiele klarzumachen. Uns konnte das Sozialistengesetz nicht „beleidigen", sagte Bebel zu Frank; wir waren von Zorn und Haß erfüllt, „ . . . und hätten wir damals gekonnt, wie wir innerlich wollten, wir hätten losgeschlagen und hätten alles zertrümmert, was uns im Wege lag". (Stürmische Zustimmung, heißt es an dieser Stelle im stenografischen Bericht.) „Wir wären Verräter an unserer Sache gewesen, wenn wir das nicht getan hätten. (Sehr richtig!) Aber wir konnten es nicht..."

Es beleidigt mich, wenn ein konstitutioneller Minister die Gleichberechtigung der Sozialisten nicht anerkennt - räsoniert Frank. Es darf für Sie keine Beleidigung sein, wenn Ihnen die Gleichberechtigung von einem Menschen abgesprochen wird - sagt Bebel - , der Sie noch kürzlich unterdrückte und alle „Prinzipien" mit Füßen trat, der Sie als Verteidiger der bürgerlichen Ordnung unterdrücken mußte und der Sie auch morgen wird unterdrücken müssen (das hat Bebel zwar nicht gesagt, aber er hat es ganz klar angedeutet; warum Bebel so vorsichtig war, sich nur auf Andeutungen zu beschränken, werden wir an der entsprechenden Stelle sagen). Wir wären Verräter, wenn wir diese Feinde des Proletariats nicht erwürgen würden, sobald wir die Möglichkeit dazu haben.

Zwei Ideenwelten: auf der einen Seite der Standpunkt des proletarischen Klassenkampfes, der in bestimmten historischen Perioden auf dem Boden der bürgerlichen Gesetzlichkeit geführt werden kann, der aber unvermeidlich zur Entscheidung, zum offenen Kampf, zu der Alternative führt: entweder den bürgerlichen Staat zu „zertrümmern" oder selbst zertrümmert und erwürgt zu werden. Auf der anderen Seite der Standpunkt des Reformisten, des Kleinbürgers, der den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, der hinter dem Flitterkram der verfassungsmäßigen Gesetzlichkeit den erbitterten Klassenkampf nicht sieht und in dem Krähwinkel irgendeines Kleinstaates die großen historischen Fragen der Gegenwart vergißt.

Die Reformisten dünken sich Realpolitiker, Männer der positiven Arbeit, Staatsmänner zu sein. Solche kindlichen Illusionen im Proletariat zu nähren ist für die Herren der bürgerlichen Gesellschaft vorteilhaft, die Sozialdemokraten aber müssen diese Illusionen unbarmherzig zerstören. Die Worte über Gleichberechtigung sind „nichtssagende Reden", erklärte Bebel. „Er hat mit seinen nichtssagenden Reden eine ganze sozialistische Fraktion eingefangen, wer das kann, der ist ein Staatsmann", erklärte Bebel unter allgemeiner Heiterkeit des Parteitags, „aber diejenigen, die sich so fangen lassen, das sind keine Staatsmänner . . . " Das ist haargenau das, was für die verschiedensten Opportunisten des Sozialismus, die sich von den Nationalliberalen in Deutschland, von den Kadetten in Rußland einfangen lassen, zutrifft. „Die Negierer haben in der Welt oft mehr erreicht als die sogenannten positiven Arbeiter", erklärte Bebel. „Scharfe Kritik, scharfe Opposition fällt alle Zeit auf fruchtbaren Boden, wenn sie berechtigt ist, und unsere ist gewiß berechtigt."

Opportunistische Phrasen über positive Arbeit bedeuten in vielen Fällen Arbeit für die Liberalen, überhaupt Arbeit für die anderen, die die Macht in den Händen haben, die die Richtung der Tätigkeit des gegebenen Staates, der gegebenen Gesellschaft, des gegebenen Kollektivs bestimmen. Und Bebel hat diese Schlußfolgerung direkt gezogen, als er sagte: „Wir haben mehr solcher Nationalliberalen, die nationalliberale Politik machen." Als Beispiel dafür nannte Bebel Bloch, einen nicht unbekannten Redakteur der sogenannten (nach Bebels Worten - sogenannten) „Sozialistischen Monatshefte". „Nationalliberale müssen hinaus, sie können in der Partei nicht bleiben", erklärte Bebel ausdrücklich unter allgemeiner Zustimmung des Parteitags.

Man schaue sich die Liste der Mitarbeiter der „Sozialistischen Monatshefte" an. Dort sind alle Vertreter des internationalen Opportunismus. Dort kann man sich nicht genug tun, um das Verhalten unserer Liquidatoren zu loben. Sind das nicht zwei Ideenwelten, wenn der Führer der deutschen Sozialdemokratie einen Redakteur dieses Organs einen Nationalliberalen nennt?

Die Opportunisten der ganzen Welt nehmen Kurs auf die Politik des Blocks mit den Liberalen, indem sie bald offen und unverhüllt diese Politik verkünden und durchführen, bald Wahlabkommen mit den Liberalen, Unterstützung ihrer Losungen usw. predigen und rechtfertigen. Bebel hat immer wieder die ganze Heuchelei, die ganze Verlogenheit dieser Politik entlarvt, und von seinen Worten kann man ohne Übertreibung sagen, daß sie jeder Sozialdemokrat kennen und sich einprägen muß.

„Wenn ich als Sozialdemokrat in ein Bündnis mit bürgerlichen Parteien eintrete, so ist tausend gegen eins zu wetten, daß nicht die Sozialdemokraten, sondern die bürgerlichen Parteien die Gewinnenden und wir die Verlierenden sind. Es ist ein politisches Gesetz, daß überall, wo Rechte und Linke sich liieren, die Linke verliert und die Rechte gewinnt...
Wenn ich in ein politisches Freundschaftsverhältnis mit einer mir grundsätzlich gegnerischen Partei trete, dann muß ich notwendigerweise meine Taktik, d.h. meine Kampfesweise, darauf einrichten, damit das Bündnis nicht breche. Ich darf also nicht mehr darauflos kritisieren, ich darf nicht mehr grundsätzlich kämpfen, denn damit verletze ich meine Bundesgenossen, ich bin gezwungen, zu schweigen, über manches den Mantel der Liebe zu decken, manches zu rechtfertigen, was sich nicht rechtfertigen läßt, zu vertuschen, was nicht vertuscht werden darf usw."

Der Opportunismus ist eben deshalb Opportunismus, weil er die grundlegenden Interessen der Bewegung momentanen Vorteilen oder Erwägungen zum Opfer bringt, die auf der kurzsichtigsten, oberflächlichsten Berechnung beruhen. Frank erklärte in Magdeburg pathetisch, daß die Minister in Baden „uns Sozialisten zur Mitarbeit heranziehen wollen"!

Nicht nach oben, sondern nach unten muß man schauen, sagten wir während der Revolution zu unseren Opportunisten, die sich des öfteren für verschiedene Kadettenperspektiven begeisterten. Bebel meinte die Frank, als er in Magdeburg in seinem Schlußwort ausführte: „Die Massen begreifen es nicht, daß es Parteigenossen gibt, die Regierungen unterstützen, indem sie ihnen ein Vertrauensvotum geben, die sie am liebsten beseitigen möchten. Ich habe oftmals den Eindruck, daß ein Teil unserer Führer nicht mehr versteht, was die Massen zu leiden haben (stürmische Zustimmung), daß sie der Lage der Massen entfremdet sind." Und „es herrscht ein ungeheures Maß von Erbitterung in ganz Deutschland".

„Wir sind jetzt in einer Zeit, wo wir uns auf faule Kompromisse nicht einlassen dürfen", sagte Bebel an einer anderen Stelle seiner Rede. „Die Klassengegensätze werden nicht milder, sie werden schärfer. Wir marschieren sehr, sehr ernsten Zeiten entgegen. Was kommt nach den nächsten Wahlen? Das wollen wir abwarten. Wenn es gar dazu kommt, daß 1912 ein europäisches Kriegsgewitter losbricht, dann sollt ihr sehen, was wir erleben und wo wir zu stehen haben. Sicherlich ganz woanders, als man jetzt in Baden steht."

Während die einen sich mit der Lage der Dinge, wie sie in Deutschland zur Gewohnheit geworden ist, selbstgefällig zufriedengeben, richtet Bebel seine ganze Aufmerksamkeit auf die unvermeidlich bevorstehende Wendung und rät der Partei, ihr Augenmerk ebenfalls darauf zu richten: „Was wir bisher durchgeführt haben, waren alles nur Vorpostengefechte, Kleinigkeiten", führte Bebel in seinem Schlußwort aus. Der Hauptkampf steht noch bevor. Und vom Standpunkt dieses Hauptkampfes aus ist die ganze Taktik der Opportunisten der Gipfel der Charakterlosigkeit und Kurzsichtigkeit.

Wo Bebel vom künftigen Kampf spricht, beschränkt er sich auf Andeutungen. Nicht ein einziges Mal spricht er direkt darüber, daß in Deutschland die Revolution herannaht, obwohl dies zweifellos seine Auffassung ist - alle Hinweise auf die Zuspitzung der Gegensätze, auf die Schwierigkeit von Reformen in Preußen, auf die ausweglose Lage der Regierung und der herrschenden Klassen, auf die wachsende Erbitterung der Massen, auf die Gefahr eines europäischen Krieges, auf die Verstärkung des wirtschaftlichen Drucks infolge des Steigens der Lebenshaltungskosten, der Vereinigung der Kapitalisten in Trusts, Kartellen usw. usf. - alles zielt offensichtlich darauf ab, der Partei und den Massen die Unvermeidlichkeit des revolutionären Kampfes klarzumachen.

Warum ist Bebel so vorsichtig, warum beschränkt er sich nur auf andeutende Hinweise? Weil die in Deutschland heranwachsende Revolution eine besondere, spezifische politische Situation vorfindet, die anderen vorrevolutionären Epochen in anderen Ländern nicht ähnlich ist und die daher von den Führern des Proletariats die Lösung einer gewissen neuen Aufgabe fordert. Die Hauptbesonderheit dieser spezifischen vorrevolutionären Situation besteht darin, daß die kommende Revolution unvermeidlich ungleich tiefgreifender, ernster sein wird, daß sie breitere Massen in einen schwierigeren, hartnäckigeren, langwierigeren Kampf hineinziehen wird als alle früheren Revolutionen. Gleichzeitig aber zeichnet sich diese vorrevolutionäre Situation dadurch aus, daß in ihr (im Vergleich zur Vergangenheit) die größte Gesetzlichkeit herrscht und daß diese Gesetzlichkeit denen im Weg ist, die sie eingeführt haben. Darin besteht die Eigenart der Lage, darin besteht die Schwierigkeit und das Neue der Aufgabe.

Die Ironie der Geschichte hat es mit sich gebracht, daß die herrschenden Klassen Deutschlands, die den stärksten Staat der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schufen, die die Bedingungen für den raschesten kapitalistischen Fortschritt und die stabilste verfassungsmäßige Gesetzlichkeit festigten, jetzt ganz offensichtlich in eine Lage kommen, wo sie diese Gesetzlichkeit, ihre Gesetzlichkeit zerschlagen müssen, zerschlagen müssen - um der Erhaltung der Herrschaft der Bourgeoisie willen.

Die deutsche sozialdemokratische Arbeiterpartei hat die bürgerliche Gesetzlichkeit ungefähr ein halbes Jahrhundert lang vorbildlich ausgenutzt, indem sie die besten proletarischen Organisationen, eine ausgezeichnete Presse schuf und das Klassenbewußtsein und die Geschlossenheit der sozialistischen proletarischen Avantgarde auf die höchste Stufe hob (die unter dem Kapitalismus überhaupt möglich ist).

Jetzt naht die Zeit, da dieses halbe Jahrhundert deutscher Geschichte auf Grund von objektiven Ursachen durch eine andere Phase abgelöst werden muß. Die Epoche der Ausnutzung der von der Bourgeoisie geschaffenen Gesetzlichkeit wird abgelöst durch eine Epoche gewaltiger revolutionärer Kämpfe, wobei diese Kämpfe dem Wesen nach die Zerstörung der gesamten bürgerlichen Gesetzlichkeit, der gesamten bürgerlichen Ordnung bedeuten werden, der Form nach aber beginnen müssen (und beginnen) mit verzweifelten Anstrengungen der Bourgeoisie, die von ihr selbst geschaffene und für sie unerträglich gewordene Gesetzlichkeit loszuwerden! „Schießen Sie gefälligst zuerst, meine Herren Bourgeois!" - mit diesen Worten kennzeichnete Engels 1892 die Eigenart der Lage und die Eigenart der taktischen Aufgaben des revolutionären Proletariats.

Das sozialistische Proletariat wird keinen Augenblick lang vergessen, daß ihm ein revolutionärer Massenkampf bevorsteht, und zwar unvermeidlich bevorsteht, der alle und jede Gesetzlichkeit der zum Tode verurteilten bürgerlichen Gesellschaft zerschlagen wird. Und gleichzeitig hat die Partei, die ein halbes Jahrhundert lang die Gesetzlichkeit der Bourgeoisie vortrefflich gegen die Bourgeoisie ausgenutzt hat, nicht die geringste Veranlassung, auf die Vorzüge im Kampf, auf dieses Plus im Gefecht zu verzichten, die sich daraus ergeben, daß der Feind sich verstrickt hat in seiner eigenen Gesetzlichkeit, daß der Feind gezwungen ist, „zuerst zu schießen", gezwungen ist, seine eigene Gesetzlichkeit zu zerschlagen.

Darin eben besteht die Eigenart der vorrevolutionären Situation im heutigen Deutschland. Daher die Vorsicht des alten Bebel, der die ganze Aufmerksamkeit auf den bevorstehenden großen Kampf lenkt und mit der ganzen Kraft seines außerordentlichen Talents, seiner Erfahrung, seiner Autorität gegen die kurzsichtigen und charakterlosen Opportunisten zu Felde zieht, die diesen Kampf nicht begreifen, die nicht taugen, in ihm Führer zu sein, denen es wahrscheinlich während der Revolution bevorsteht, aus Führern zu Geführten zu werden, wenn nicht gar hinweggefegt zu werden.

In Magdeburg hat man mit diesen Führern gestritten, ihnen die Mißbilligung ausgesprochen, ihnen ein offizielles Ultimatum gestellt als Vertretern all dessen, was sich in der großen revolutionären Armee an Unzuverlässigem, an Schwachem angesammelt hat, was von der bürgerlichen Gesetzlichkeit angesteckt ist, was abgestumpft ist vor ehrfurchtsvoller Verherrlichung dieser Gesetzlichkeit, Verherrlichung der ganzen Beschränktheit einer der Sklavenhalterepochen, d. h. einer der Epochen der bürgerlichen Herrschaft. Indem das deutsche Proletariat den Opportunisten die Mißbilligung aussprach und ihnen mit dem Ausschluß drohte, verurteilte es alle Elemente, die in seiner mächtigen Organisation stagnierend, schwankend und schlaff sind, die unfähig sind, mit der Mentalität der sterbenden bürgerlichen Gesellschaft zu brechen. Indem die fortgeschrittene Klasse die schlechten Revolutionäre in ihren Reihen verurteilte, hat sie vor dem Betreten des Weges der sozialen Revolution eine der letzten Heerschauen ihrer Kräfte durchgeführt.

*
Während die Aufmerksamkeit aller revolutionären Sozialdemokraten in der ganzen Welt darauf gerichtet war, wie sich die deutschen Arbeiter zum Kampf vorbereiten, wie sie den Zeitpunkt dafür wählen, den Feind scharf beobachten und sich von den Schwächen des Opportunismus frei machen - frohlockten die Opportunisten der ganzen Welt über die Meinungsverschiedenheiten zwischen Luxemburg und Kautsky in Bezug auf die Einschätzung der gegenwärtigen Lage, in Bezug auf die Frage, ob sofort oder noch nicht sofort, in diesem Augenblick oder im nächsten Augenblick einer jener Wendepunkte eintritt oder eintreten wird, wie es der 9. Januar in der russischen Revolution war. Die Opportunisten frohlockten und versuchten, diese Meinungsverschiedenheiten, denen keine erstrangig Bedeutung zukommt, zu schüren sowohl in den „Sozialistischen Monatsheften" als auch im „Golos Sozial-Demokrata" (Martynow), in der „Shisn" [Das Leben], im „Wosroshdenije" und in dergleichen liquidatorischen Organen sowie in der „Neuen Zeit" (Martow) (1). Wie erbärmlich diese Methoden der Opportunisten aller Länder sind, wurde in Magdeburg dokumentiert, wo die Meinungsverschiedenheiten zwischen den revolutionären Sozialdemokraten Deutschlands keine bedeutende Rolle spielten. Die Schadenfreude der Opportunisten war verfrüht. Der Magdeburger Parteitag nahm den ersten Teil der von Rosa Luxemburg eingebrachten Resolution an, in der direkt auf den Massenstreik als Kampfmittel hingewiesen wird.

„Sozial-Demokrat" Nr. 18, 16. (29.) November 1910.

 

(1) In der „Neuen Zeit" wurde Martow von Gen. Karski eine entschiedene Abfuhr erteilt.

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