Am 15. und 16. Mai fand in Chile die Wahl zum Verfassungskonvent (CC) statt, der mit der Ausarbeitung der neuen Verfassung beauftragt ist, die die von der blutigen Diktatur von Augusto Pinochet auferlegte ersetzen wird. Diese Verfassung wurde 30 Jahre lang aufrechterhalten, nachdem sich 1990 die Führer der reformistischen Linken auf beschämende Weise mit der pinochetistischen Rechten auf den sogenannten „demokratischen Übergang“ geeinigt hatten. Die Wahlen zur konstituierenden Versammlung fielen mit denen der Bürgermeister, Stadträte und Regionalgouverneure zusammen. Das Ergebnis war ein echtes politisches Erdbeben.

Kraftvolle Linkswende

Die Kräfte, die das System in den letzten drei Jahrzehnten aufrechterhalten haben, haben einen beispiellosen Schlag erlitten.

„Vamos por Chile“ – die Koalition rechter Pinochet-Parteien, die Präsident Piñera mit der offen rechtsextremen Republikanischen Partei unterstützen – hat 1,2 Millionen Stimmen erhalten, 21,24% und 37 der 155 Sitze. Das schlechteste Ergebnis des Pinochetismus seit dem Ende der Diktatur. Die Concertación, also die Koalition der Sozialistischen Partei mit der Christdemokratie, der PPD und anderen, die seit Jahrzehnten als „freundliches Gesicht“ des Systems fungiert, wurde ebenfalls abgestraft: 25 Sitze, 14,7% und knapp 824.800 Stimmen.

Die Ablehnung des Systems drückt sich vor allem in der massiven Unterstützung derjenigen Wahloptionen aus, die weiter links stehen und zusammen mehr als 2 Millionen Stimmen erhalten haben.

Die Liste „Apruebo Dignidad“ (etwa: „Ich bin für Würde“, Anm. d. Ü.) – also die Kommunistische Partei Chiles (PCCh) und der Frente Amplio („Breite Front“) erreichte 28 Sitze, 18,5% und 1,1 Millionen Stimmen und übertraf damit erstmals die Concertación. Aber die große Überraschung war die „Volksliste“, bestehend aus Kandidaturen von Arbeitern und Volksgruppen, Versammlungen und Räten, die während des Massenaufstands im Oktober und November 2019 entstanden, sowie feministischen und LGTBI-Gruppen und vielen mehr. Sie hat eine spektakuläre Unterstützung erhalten: 941.400 Stimmen, 15,1 % und 26 Sitze, womit sie ebenfalls die Concertación übertroffen hat.

Wenn man beide Optionen und andere unabhängige linke Wahlalternativen hinzufügt, stellen die von den Massen als antikapitalistisch oder systemkritisch gesehenen Kräfte die stärkste Kraft des Konvents dar, die um die 60 Sitze und 35 % der abgegebenen Stimmen liegen.

Diese Linkswende drückt sich auch in den regionalen und kommunalen Wahlen aus. Der rechte Flügel gewinnt nur in 2 von 16 Regionen, und seine Kandidaten müssen sich in der zweiten Runde denen der Concertación stellen. In mehreren wichtigen Städten und Gemeinden haben eher links stehende Kandidaten wichtige Siege erlangt, wobei Santiago besonders zu nennen ist, die Hauptstadt, die fast 50% der Bevölkerung des Landes konzentriert und in der zum ersten Mal seit 30 Jahren eine Bürgermeisterin der PCCh gewählt wurde, die auch aus der feministischen Bewegung bekannt ist.

Dieses Ergebnis ist nicht nur deshalb von enormer Bedeutung, weil die Wahlfront immer ungünstiger für die Linke ist, sondern auch, weil die herrschende Klasse zu allen möglichen Manövern gegriffen hat, um ihren Vormarsch zu verhindern: Wahlverschiebungen, Schwierigkeiten für die ärmste Bevölkerung, an den Wahlzentren teilzunehmen, totale Marginalisierung der von Versammlungen und Basisbewegungen präsentierten Kandidaturen in den Medien, millionenschwere Investitionen von Ressourcen zur Unterstützung der Kampagne der Parteien des Regimes...

Trotz allem haben Millionen junger Menschen, Arbeiter und Bauern den Wahlaufruf genutzt, um einmal mehr ihre Ablehnung nicht nur der Kürzungen, der Unterdrückung und der Korruption der rechten Regierung von Piñera, sondern des gesamten chilenischen kapitalistischen Regimes zum Ausdruck zu bringen, das seit Jahren als Modell für Wachstum und Stabilität hochgehalten wird, aber tatsächlich zu den sozial ungleichsten Ländern der Welt zählt. Laut einer OECD-Studie aus dem Jahr 2015 haben die reichsten 10 % der Bevölkerung 27-mal mehr Vermögen angehäuft als die ärmsten 10 % (der OECD-Durchschnitt liegt bei 9,6). Schon damals war es die größte soziale Kluft seit 30 Jahren. Die Wirtschaftskrise und die Pandemie haben diese Situation weiter verschärft.

Das Misstrauen gegenüber dem konstituierenden Verfahren nimmt zu

Die massive Abstimmung für unabhängige Kandidaten, die von unten befördert wurden, spiegelt auch wider, dass Hunderttausende junge Menschen und Arbeiter dem Verfassungsprozess misstrauen und verlangen, dass die Führer der Linken ihre Mobilisierung so schnell wie möglich wieder aufnehmen. Kevin, ein 22-jähriger junger Arbeiter, der an den Demonstrationen 2019 teilnahm, fasste dieses Gefühl so zusammen: „Ich bin ziemlich misstrauisch gegenüber dem Prozess, der eine Vereinbarung der politischen Klasse für die politische Klasse war. Auf jeden Fall werde ich abstimmen, denn wenn ich an die denke denen ich misstraue, möchte ich das minimale Instrument, das ich habe, wählen, um zu versuchen, die Dinge so zu ändern, dass sie nicht bleiben wie sie sind“ (El País, 15.05.2021).

In der Tat war die Einberufung des Verfassungskonvents ein Manöver der herrschenden Klasse, um die Mobilisierung auf den Straßen zu stoppen, in einem Kontext, in dem die Proteste gegen den Anstieg des Preises für U-Bahn-Tickets und die brutale Repression der Polizei durch Piñera einen Aufstand der Massen auslösten und eine revolutionäre Bewegung, die die Macht der Kapitalisten hätte stürzen und eine Arbeiterregierung aufbauen können. Die Führer der Sozialistischen Partei unterstützten dieses Manöver jedoch voll und ganz, indem sie mit der Rechten das „Abkommen für sozialen Frieden und die neue Verfassung“ unterzeichneten. Die Führer der PCCh, die meisten Kräfte der Frente Amplio und der CUT (wichtigster Gewerkschaftsbund) endeten, obwohl sie diese Vereinbarung kritisierten, in der Praxis damit, sie zu akzeptieren, die Massen zu demobilisieren und die Bewegung auf das Gleis des bürgerlichen Parlamentarismus zu lenken.

Bis heute sind mehr als 600 Teilnehmer des Aufstands von 2019 inhaftiert, Repressionen werden täglich durchgeführt und die Regierung ergreift weiterhin Maßnahmen gegen die Arbeiter und, zuletzt, um den Abzug eines Teils der Renten aus privaten Fonds, die von der Bank kontrolliert werden, zu verhindern. Die Angriffe gehen weiter, aber auf der Straße gibt es keine Reaktion von den Führern der Linken. Unzufriedenheit und Misstrauen nehmen noch mehr zu. Darüber hinaus hat die chilenische Bourgeoisie, um die Kontrolle über die verfassunggebende Versammlung zu gewährleisten, in das unterzeichnete Abkommen die Verpflichtung eingeführt, dass jede Entscheidung des Konvent nur gültig ist, wenn sie von zwei Dritteln der Delegierten angenommen wird.

Obwohl die Kandidatur der Pinochetisten einen schweren Schlag erlitten hat, indem sie nicht einmal das nötige Drittel erreicht hat, um die für die Arbeiter günstigen Maßnahmen im Konvent zu blockieren, werden sie, wenn sie ihre Stimmen mit mehreren unabhängigen rechten Wählern vereinen, dieses Vetorecht haben. Darüber hinaus wird die Oligarchie bei wichtigen Abstimmungen auch auf die Stimmen der Christdemokraten und anderer rechtsgerichteter Teile der Concertación und sogar der sozialdemokratischen Führer der PS zählen können, die in den letzten Jahren reichlich Zeugnis ablegten , sowohl von der Opposition als auch als Regierung, bereit zu sein, jede Initiative zu stoppen, die die Interessen der herrschenden Klasse entschieden in Frage stellt.

Für eine Einheitsfront der kämpferischen Linken mit einem sozialistischen Programm und einem Plan zur Eroberung der Macht

Das Misstrauen gegenüber dem Verfassungsprozess schlägt sich auch in einem Rückgang der Beteiligung um zehn Prozentpunkte gegenüber der Volksabstimmung vom Oktober 2020 nieder. Damals gewann die „Zustimmung“zu einer neuen Verfassung mit 80 % Unterstützung und einer Beteiligung von 50,1 % - in einigen Regionen der Arbeiterklasse sogar 60 bis 65 %. Jetzt sinkt die Beteiligung auf 41%, wobei genau in diesen Regionen die Beteiligung stärker zurückgeht.

Diese Erosion der Illusionen in den konstituierenden Prozess ist eine Chance, aber auch eine Warnung für die Linke. Die Unzufriedenheit mit einem von den bürgerlichen Parteien blockierten Verfassungskonvent, der kein Problem der Massen löst, wird exponentiell zunehmen.

Die richtige Antwort auf diese Unzufriedenheit besteht darin, eine Alternative auf der Linken zu finden, die die Mobilisierung auf den Straßen wieder aufbaut und einen Kampfplan zur Machtergreifung aufstellt, die Versammlungen und offenen Räte neu belebt und lenkt, sie in einer Versammlung der Arbeiter- und Volksmacht vereint und ein Programm zur Umgestaltung der Gesellschaft vorlegen. Im Moment argumentieren die Führer der PCCh, der Breiten Front und der CUT weiterhin, dass alles den konstituierenden Prozess und das bürgerliche Parlament durchlaufen muss. Diese Strategie kann früher oder später nur zu einer tragischen Niederlage führen.

Die Strategie der chilenischen Bourgeoisie hat als zentrale Achse die Nutzung des konstituierenden Prozesses, um Zeit zu gewinnen und das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten zu verändern. Dafür werden sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Waffen einsetzen: Blockade des Konvents, Sabotage der von der Linken gewonnenen Kommunalregierungen, Repression gegen die kämpferischere Linke verbunden mit Aufrufen zu Verhandlungen und Dialog, Einsatz der Führer der PS und der Sektoren der Reformisten der FA und PCCh, um die Massen ruhig zu halten und zu demoralisieren.

Ihr unmittelbares Ziel ist es, einen Sieg der Linken bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden November zu verhindern. Aber selbst wenn die tiefe Ablehnung des Systems zu einem Sieg der Linken bei den Präsidentschaftswahlen führen würde, würden die chilenische Bourgeoisie und der US-Imperialismus all ihre wirtschaftliche Macht und Kontrolle über den Staatsapparat einsetzen – wie sie es mit der Regierung von Salvador Allende während der Revolution von 1970/73 getan haben – jede für die Unterdrückten günstige Maßnahme zu sabotieren, die Massen zu demoralisieren und so schnell wie möglich in die Offensive zu gehen, um ihre revolutionären Bestrebungen brutal zu zerschlagen und zu unterdrücken.

Die einzige Möglichkeit in Chile, Kolumbien, Peru und dem Rest Lateinamerikas besteht darin, sich auf die beeindruckende Stärke und den Klasseninstinkt zu stützen, die die Massen zeigen, um eine echte sozialistische Transformation der Gesellschaft vorzuschlagen und all diese Kräfte hinter einem wirklich sozialistischen Programm zu mobilisieren und zu organisieren, das die Forderung der Enteignung der Banken, der wichtigsten Unternehmen und des Landes erhebt und sie unter die Führung der Arbeiter stellt, um die Wirtschaft demokratisch zu planen und die sozialen Bedürfnisse zu befriedigen. Daneben ist es wesentlich, Embryonen der Arbeiter- und Volksmacht wie Versammlungen, Räte usw. zu fördern, zu erweitern und zu vereinen, die letztlich die einzige Grundlage eines echten revolutionären Arbeiterstaates werden könnten, der den von den Kapitalisten geschmiedeten Staat ersetzt.

Der Sieg der Revolution in jedem Land Lateinamerikas mit einem Programm in dieser Richtung und in einem Kontext wie dem aktuellen würde sich schwindelerregend auf andere Länder ausbreiten und zu einem Bezugspunkt und einer Inspiration für die Unterdrückten auf der ganzen Welt werden.

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