Während der weltweite Kapitalismus in einer tiefen Krise steckt, wurde das Spekulationsfieber an den Börsen auch in den vergangenen Monaten nicht gelindert: Allein zwischen März und Dezember letzten Jahres stieg der DAX von einem Tief von 8.441,71 auf 13.718,78 Punkte an. Damit startete der DAX im Jahr 2021 – inmitten der Wirtschaftskrise – mit dem höchsten je gemessenen Wert zu Jahresanfang seit Beginn der Aufzeichnungen.

Das ist das Ergebnis immer fieberhafter anwachsender Spekulationsblasen mit Geldern, die gerade in der Überproduktionskrise und trotz Niedrigzinspolitik nicht produktiv investiert werden, nicht in die Realwirtschaft investiert wird, sondern an den Börsen. Der Kapitalismus hat ein Stadium tiefer Dekadenz erreicht – und das, während der Großteil der Menschheit immer schlechter werdenden Lebens- und Arbeitsbedingungen entgegensieht.

Doch im Januar und Februar kam es an den internationalen Handelsplätzen zu einer interessanten Dynamik, die weltweit Aufsehen erregt hat. Über „wallstreetbets“, einer Art online-Forum auf der Website reddit, in dem sich Menschen aus allen Teilen der Welt über ihre Aktivität Kleinleger austauschen können, haben sich Millionen Nutzer organisiert und gegen internationale Hedgefonds gewettet. Durch das, was die Kleinanleger als „Finanzrevolution“ gefeiert und Banker empört als „Markmanipulation“ gebrandmarkt haben, wurden Fonds wie Melvin Capital zeitweise Verluste in Milliardenhöhe beschert.

The Big Short

Auslöser und Ziel der Aktionen waren Aktienkurse von Unternehmen wie dem Videospieleverkäufer Gamestop, aber auch der Kinokette AMC oder dem Handy-Hersteller Blackberry. Diese hatten durch monatelang schwächelnde Kurse so genannte „Leerverkäufer“ angezogen, zu denen auch Melvin Capital gehört. Diese wetten auf weiter sinkende Kurse, indem sie Aktien solcher Unternehmen leihen und sofort verkaufen, nur um sie dann kurz vor Ablauf der Leihfrist zu einem (spekulierten) niedrigeren Preis wieder zurückkaufen zu können.

Diese „Shorts“ stehen wie keine andere Methode für die obszöne und abgekoppelte Welt der Finanzmärkte. Ganze Finanz-Konglomerate bauen auf diese komplexen Netze aus mehrmals geshorteten Aktien; und sie verdienen sich damit eine goldene Nase. So waren Anfang des Jahres 140% (!) der Gamestop-Aktien leerverkauft. Die Finanzaufsichten der Welt interessiert das offensichtlich herzlich wenig.

Problematisch wird es nur, wenn die Kurse der geshorteten Aktien nicht wie erwartet fallen. Genau darin bestand das Ziel der Kleinanleger. Sie sind massenweise in die billigen Aktien von Gamestop und Co. eingestiegen und haben diese so nach oben getrieben. Auf diese Weise haben sie nicht nur selbst profitiert (Anfang Februar war der Wert der Gamestop-Aktie von 17,25 Dollar auf 325 Dollar gestiegen), sondern die Leerverkäufer auch empfindlich getroffen. Am 29. Januar verlor Melvin Capital an nur einem Tag 7,8 Milliarden Dollar, als der Kurs um 68% anstieg.

Hass auf die Wall Street

Es ist klar, dass ein Großteil dieses Gamestop-Hypes aus den Gewinnaussichten für die Kleinanleger kam, die hofften, in diesem simplen Prozess eines exponentiellen Anstiegs schnelles Geld machen zu können. Doch es ist auch nicht abzustreiten, dass der Hype um wallstreetbets, das in den letzten Wochen Millionen neue Nutzer zählte, auch mit einer zunehmenden Entfremdung vom Geschehen an den Finanzmärkten zu tun hat, die für gewöhnlich nur als Casino zur weiteren Bereicherung der Superreichen gelten. Gerade deshalb hat der Aufruf nach einer Koordinierung gegen die Short-Seller und Hedgefonds Hunderttausende erreicht und das zu einem Zeitpunkt, als aus der Aktie noch längst kein Geld zu ziehen war. Ansonsten wären die geringen Mengen an Privatkapital für die milliardenschweren professionellen Trader gar nicht relevant gewesen.

Nachdem sich abzeichnete, dass die Flut der Kleinanleger die Finanzriesen gefährlich treffen könnte, schalteten sich umgehen die Finanzaufsichten ein und drohten, gegen diese „Marktmanipulation“ vorzugehen. Selbst die deutsche BaFin – die im Fall von Wirecard jahrelang wohlwollende Untätigkeit walten lies – erklärte Absprachen wie in diesem Fall zum „strafbaren Marktmissbrauch“. Und das, während die Trading-Plattformen in offensichtlich korrupter Manier den Handel mit den betroffenen Aktien zugunsten von Melvin Capital und Co. einfach einstellten und damit etlichen Kleinanlegern schadeten! Daraufhin wurden auf reddit massenhaft Kommentare voller Hass und Spott gegen die etablierte Finanzclique verbreitet. Ein tausendfach geteilter Beitrag lautete im weiteren Sinne: „Sie sagen den Leuten ‚Ihr habt nicht genug Geld? Dann geht doch an die Börse!‘ Jetzt sind wir an der Börse und sie schreien ‚Marktmanipulation! Eingriff in den freien Markt!‘“

Robin Hood im 21. Jahrhundert?

Die Ereignisse um „Gamestop“ sind Ausdruck einer allgemeinen Veränderung an den Finanzmärkten in den letzten Jahren. So genannte Neo-Broker wie „Robinhood“ in den USA oder „Trade Republic“ in Deutschland haben mit ihren Billigmodellen, die meist, mit nur geringen oder gar keinen Pauschalkosten, den Handel direkt am Smartphone ermöglichen, unzählige Neukunden gewonnen. Robinhood zählte im Dezember 2020 13 Millionen meist junge Nutzer, von denen knapp die Hälfte das erste Mal mit Aktien handelt. Sie steigen als Amateure mit geringen Beträgen in den Handel ein und werden von den „Experten“ als „Idiot Money“ verschrien.

Gerade in Zeiten schlechter Arbeitsbedingungen und niedriger Löhne ist es ein verständlicher Traum, an den Aktienmärkten, die für so viele Großkapitalisten wie eine Geldmaschine wirken, etwas für sich abzwacken zu wollen. Gerade die neuen Broker zielen mit ihren Angeboten vor allem auf die Mittelschichten, aber auch Arbeiter mit gehobeneren und sicheren Einkommen. Sie werben damit, in der Freizeit ein lukratives Nebeneinkommen schaffen zu können, appellieren an die libertären Werte des „freien Marktes“, der auch den „Kleinen“ offen sein sollte, und kleiden sich selbst in ein pseudo-rebellisches Gewand, wie das des Räubers aus dem Sherwood Forrest. Doch kann dieser Traum der Umverteilung an den Aktienmärkten in Erfüllung gehen?

Der Fall Gamestop, der auf den ersten Blick den Anschein einer Rebellion an den Aktienmärkten macht, beweist das Gegenteil. Sieht man sich beispielsweise die offizielle Seite dieser „Online-Rebellion“ an, so ist sie zutiefst undurchsichtig und fragwürdig. Keith Gill, bekannt als Youtuber Roaring Kitty und einer der inoffiziellen Vertreter der Kleinanleger-Community, wurde Mitte Februar vor die US-Finanzaufsicht gebracht. Er betont, aus „bescheidenen Verhältnissen“ zu kommen und „kein institutioneller Investor oder Hedgefond“ zu sein – hat aber gleichzeitig Mitte Januar über ein Portfolio von über 48 Millionen US-Dollar verfügt.

Weit davon entfernt, ein Gegenmodell zu der von den Global Players dominierten Finanzwelt zu schaffen oder gar die tieferen Probleme unseres Wirtschaftssystems anzugehen, sind diese Neo-Broker einfach nur die andere Seite der Medaille des weiter um sich greifenden Finanzkapitals. Denn wer sonst sollte hinter diesen Unternehmen stehen? Nicht nur, dass die billigen Preise mit höchst dubiösen Methoden erkauft werden: So bieten Seiten wie Robinhood ihren Kunden oft nur eingeschränkten Zugriff auf die Märkte und verkaufen gleichzeitig ihre Nutzerdaten an… Hedgefonds, Shortseller und Hochfrequenzhändler. Nein, Noch besser. Einer dieser wichtigen Geschäftspartner von Robinhood ist Citadel Securities; ein Unternehmen im Besitz von Kenneth Griffin, einem der mächtigsten Hedgefond-Manager der Welt und direkt daran beteiligt, Melvin Capital wieder zu stabilisieren, während die meisten Privatanleger den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurden und jetzt, da der Hype nachgelassen hat, mit Verlusten dastehen.

Nichts ist falsch an der Idee, dass die WallStreet-Riesen endlich zugunsten der „Kleinen“ enteignet gehören; nichts ist falsch am Traum der sozialen Gerechtigkeit. Aber auf den Aktienmärkten ist und bleibt er eine Illusion: Auf einem Territorium, wo die Großbanken und –konzerne diktatorisch die Regeln bestimmen (oder warum verfolgen Finanzaufsichten die Kleinanleger, während Trading-Plattformen einfach schließen, sobald die Großen Verluste machen?) und wo die Ausgangsbedingungen unterschiedlicher nicht sein könnten (während Kleinanleger schnell ihr Hab und Gut verlieren, verfügen die großen über gut verteilte Millionenanlagen und Technologien, die Aktien in Hochfrequenz kaufen und abstoßen können) gewinnt immer die Bank. Untersuchungen von JP Morgan und anderen Banken zeigen deutlich, dass Großanleger Millionenprofite abräumen, während die Gewinnmarge von Kleinanlegern sich für gewöhnlich etwa in Inflationshöhe bewegt. Und warum sollten uns Hedgefonds und Co. die Mittel in die Hand geben, ihren Gewinn zu schmälern?

Man kann es also Drehen und Wenden wie man will: Es ist klar, wer von diesem Geschäft am Ende profitiert. Online-Plattformen wie Robinhood oder Trade Republic werden den Traum vom „schnellen Geld“ schamlos ausnutzen. Ihre Geschäftsmodelle sind, ebenso wie die großen Fonds an der Wall Street, mit ihren Leerverkäufen und Spekulationen, nur eine weitere Bankrotterklärung eines Systems, indem man mit dem Verkauf von fiktiven Werten reich werden kann, während Arbeitsplätze gestrichen werden und die gesellschaftlich wirklich nützlichen Arbeiten kaum mehr zum Leben reichen.

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